Bereits seit Beginn des Krieges gegen die kurdische Freiheitsbewegung griff der türkische Staat zu Chemiewaffen, im Jahr 2021 wurde der Einsatz dieser völkerrechtswidrigen Waffen jedoch zur Hauptstütze des türkischen Angriffskriegs. Die kurdische Guerilla sollte durch den Einsatz von Chemiewaffen vollständig vernichtet werden. Dies scheiterte jedoch an der Entschlossenheit und den Gegenmaßnahmen der Guerilla.
Die Chemiewaffeneinsätze in Kurdistan sind eng mit der Kolonialgeschichte der Region verbunden. Der erste Chemiewaffeneinsatz in Kurdistan fand während des I. Weltkriegs statt. Dabei wurden zwischen fünf- und zehntausend Kurd:innen ermordet. Anschließend wurden in den Jahren 1937 und 1938 aus Deutschland gelieferte Giftgase eingesetzt, um zehntausende Kurd:innen im nordkurdischen Dersim zu ermorden. Das türkische Militär hat sich im Laufe der Jahre mit technologischer Unterstützung der NATO und anderer westlicher Staaten im Einsatz chemischer Waffen weiter professionalisiert.
Insbesondere nach dem Beginn des bewaffneten Kampfs der PKK am 15. August 1984 weitete die türkische Armee ihr Inventar an chemischen Waffen aus. Aus internen Schreiben geht ausdrücklich hervor, dass der Einsatz von Chemiewaffen für die Armee angeordnet wurde. Zum Beispiel ordnete die Kommandantur der Bodentruppen des türkischen Generalstabs in einem der Presse zugespielten Rundschreiben vom 25. Februar 1986 an: „Wenn es als nötig befunden wird, sollten die Tunnel mit Tränengas oder Brechreiz auslösenden Gasen gefüllt und unbrauchbar gemacht werden.“
Gefangene mit Chemiewaffen getötet
Der türkische Staat hat während des Krieges in Kurdistan in den 1990er und frühen 2000er Jahren dutzende Male auf chemische Waffen zugegriffen. Im Jahr 2021 wurden diese verbotenen Waffen jedoch zum ersten Mal derart systematisch eingesetzt. Der erste türkische Angriff mit Chemiewaffen erfolgte auf ein Gefangenlager der HPG in Siyanê in der Region Gare, in dem hochrangige türkische Geheimdienstmitarbeiter von der Guerilla gefangen gehalten wurden.
Wenige Tage vor dem Invasionsangriff auf Gare hatte der türkische Präsident Erdoğan von „einer guten Nachricht“ gesprochen, die er bald überbringen werde. Der Einsatz der türkischen Armee führte jedoch zum Tod von zwölf türkischen Soldaten, Polizisten und MIT-Agenten und einer Person aus Südkurdistan, die von den Volksverteidigungskräften HPG festgehalten wurden. Die Guerilla leistete drei Tage entschlossenen Widerstand und zwang die türkische Armee, die Invasion abzubrechen. Am 16. Februar 2021 gaben die HPG bekannt: „Unsere Kräfte haben das Lager im Siyanê-Gebiet der Region Gare, in dem die Gefangenen festgehalten wurden, erreicht. Ziel war es, zu ermitteln, was dort passiert ist. Obwohl drei Tage seit den Angriffen vergangen sind, hängt weiterhin ein schwerer Geruch nach Chemiewaffen über dem Gefangenlager. Aufgrund der Rückstände der von der türkischen Armee gegen dieses Camp eingesetzten Chemiewaffen konnte es nicht betreten werden. Es ist wahrscheinlich, dass jeder in diesem Lager nach dem Chemiewaffeneinsatz noch einmal erschossen wurde. Die ersten Indizien deuten in diese Richtung.“
Verteidigungsminister räumt Chemiewaffeneinsatz ein
Während seiner „Informationsrede“ im Parlament nach dem gescheiterten Invasionsangriff auf Gare gab der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar zu, dass chemische Waffen eingesetzt wurden. Er erklärte, es sei „nur Tränengas“ gewesen. Dabei hatte er offenbar vergessen, dass die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW), der die Türkei seit 1997 angehört, den Einsatz aller Arten von Gasen, einschließlich Tränengas, in geschlossenen Räumen wie Höhlen für militärische Zwecke verboten hat.
Es wird vermutet, dass 120mm-CS-Gasbomben vom Typ „MKE MOD 251“, die von den 1990er Jahren bis 2010 produziert worden waren, eingesetzt wurden. Obwohl die OPCW die Herstellung von CS-Bomben für militärische Zwecke verboten hat, produzierte die türkische Armee sie nicht nur, sondern zögerte nicht, sie jahrelang auf internationalen Messen auszustellen. CS-Gas darf nur in sehr geringen Mengen bei Auseinandersetzungen im zivilen Umfeld eingesetzt werden. Wenn es in geschlossenen Räumen wie Höhlen oder Tunneln benutzt wird, dann kann der Einsatz zum Tod führen. CS-Gas kann generell zu Verbrennungen, Schwindel, Übelkeit und in geschlossenen Räumen zum Tod führen.
Das PKK-Exekutivratsmitglied Murat Karayılan lud in einer Sendung bei Stêrk TV internationale Beobachter:innen zur Untersuchung des Chemiewaffeneinsatzes ein. In der gleichen Reportage wurde berichtet, wie die türkische Armee kurz vor ihrem fluchtartigen Abzug Chemiewaffen einsetzte. Als die HPG erneut die Kontrolle über das Gebiet erlangten, konnten viele zurückgelassene Gasmasken der türkischen Armee dokumentiert werden.
Fünfzehn HPG-Guerillakämpfer:innen fielen bei der Invasion in Gare. Die türkische Armee verlor bis zu ihrem Rückzug mindestens 37 Soldaten. Der Ko-Vorsitzende des KCK-Exekutivrats, Cemil Bayık, erklärte dazu in einem Interview im April mit der Website Responsible Statecraft: „50 Flugzeuge warfen vier Tage lang Bomben auf das Gebiet, einschließlich des Gefangenenlagers. Die Landschaft wurde durch die schweren Bomben verändert. Sowohl die Gefangenen als auch die Guerillakämpfer:innen, die die Gefangenen beschützten, wurden in Folge dieser heftigen Angriffe getötet. Die Hälfte der Guerillakämpfer:innen, die die Gefangenen bewachten, wies keine Spuren von Verletzungen durch Kugeln auf. Das beweist, dass der türkische Staat chemische Waffen eingesetzt hat.“
Nach dem 23. April …
Bereits 2014, während des Friedensprozesses, hatte die AKP/MHP-Regierung den sogenannten „Niederwerfungsplan“ beschlossen. Im Rahmen dieses Plans sollte eine Vernichtungslösung, angelehnt an das Massaker der srilankischen Regierung an der tamilischen Bevölkerung und ihrer Freiheitsbewegung LTTE im Jahr 2009 umgesetzt werden. Dieser Plan erreichte am 23. April 2021 mit der Invasion in den Medya-Verteidigungsgebieten eine neue Dimension. Das ganze Jahr über bombardierte das türkische Militär permanent die Guerillagebiete, verübte Massaker, verwüstete die Natur Kurdistans, vertrieb die Zivilbevölkerung aus den Guerillagebieten und setzte modernste chemische Waffen ein.
Für den Beginn dieses Angriffs hatte das türkische Militär die Nacht vom 23. auf den 24. April gewählt und mit einem umfassenden Luftangriff auf die strategisch für die Guerilla wichtigen Medya-Verteidigungsgebiete Metîna, Avaşîn und Zap begonnen. Nach Luftangriffen sollten Truppen abgesetzt und die Region besetzt werden. Die Kämpfer:innen der HPG und der Frauenguerilla YJA Star hielten mit den Offensiven Cenga Xabûrê und Bazên Zagrosê dagegen. Die türkische Armee setzte bereits während der ersten zehn Tage des Angriffs neun Mal Giftgas ein.
Unter dem Schweigen der Welt wurden chemische Waffen zum wichtigsten Kriegsmittel
Der Einsatz chemischer Waffen erfuhr keinerlei Echo von Seiten der Regierungen der Welt. Ermutigt dadurch, wurden Chemiewaffen zur wichtigsten Stütze der türkischen Regierung im Krieg in Südkurdistan. In Metîna, Avaşîn und Zap leisteten die Kämpfer:innen der HPG und YJA Star mit ihren beschränkten Möglichkeiten dennoch unerbittlichen Widerstand gegen die Giftgaseinsätze. Der Bilanz des Pressezentrums der HPG zufolge wurden allein im ersten Monat des Angriffs zwölf Mal Chemiewaffen eingesetzt, in den ersten drei Monaten insgesamt 67 Mal.
Das PKK-Exekutivratsmitglied Murat Karayılan erklärte Mitte Juli: „Der türkische Staat setzt chemische Waffen in Gebieten ein, in denen er den Widerstand der Guerilla nicht überwinden kann. Obwohl wir diese Situation öffentlich bekannt gegeben haben, ist die Welt leider taub und stumm geblieben.“ In einem Gespräch zum 37. Jahrestag des Beginns des bewaffneten Kampfes am 15. August erklärte Karayılan gegenüber ANF: „Seit etwa vier Monaten herrscht ein schwerer Krieg in den Gebieten, in denen der Feind seine Operation gestartet hatte. Auch wenn der Feind sich in einigen Gebieten teilweise festsetzen konnte, kann er in den Gebieten, in denen es Kriegstunnel gibt, seit Monaten nicht vorrücken. Es gab Versuche, einen Korridor an der Avaşîn-Front zu schaffen und die Freund:innen dort zu umzingeln. Doch der Feind stieß auf heftigen Widerstand und musste sich zurückziehen. In den Gebieten, wo es Tunnel gab, setzte er chemische Waffen ein, aber auch damit konnte er nicht vorrücken.“
Zivile Siedlungen im Visier von Chemiewaffen
In den letzten Sommertagen versuchte die türkische Armee vor allem in den Widerstandsgebieten Werxelê und Girê Sor den Widerstand der Guerillakräfte, gegen den sie mit konventionellen Mitteln nicht ankam, durch den Einsatz von Chemiewaffen zu brechen. Tatsächlich zielte die türkische Armee bei der Bombardierung des Gebiets Berwarî Bala in Dihok mit Chemiewaffen jedoch auch auf zivile Wohngebiete. Von dem Chemiewaffeneinsatz im Gebiet Berwarî Bala waren insbesondere drei Personen aus dem weit von den Guerillagebieten entfernten Dorf Hiror betroffen. Die drei Dorfbewohner:innen mussten ins Krankenhaus gebracht werden.
Anfang November besuchte das Christian Peacemaker Team (CPT) eine Frau namens Hediye Hirîr, die seit dem Angriff gelähmt war. Sie konnte ihre Arme und Beine nicht mehr bewegen. Andere Familienmitglieder befanden sich demnach ebenfalls in einem schlechten Gesundheitszustand. Die Organisation berichtete, während des Angriffs sei weißer Rauch aufgestiegen und die Dorfbewohner:innen hätten Übelkeit, Erbrechen, Schwindel sowie Brennen in den Augen und auf der Haut verspürt.
In der zweiten Septemberhälfte erklärte der KCK-Exekutivrat, dass der türkische Staat seit fünf Monaten Chemiewaffen gegen die Guerilla einsetze, und kritisierte das Schweigen der Vereinten Nationen, Europas und der USA. Dieses Schweigen erreiche die Qualität der Komplizenschaft. Zur selben Zeit erklärte das Volksverteidigungszentrum NPG: „Die türkische Armee hat vor allem in den letzten 15 Tagen eine neue Art einer chemischen Bombe eingesetzt. Es ist sicher, dass diese neue Art von chemischer Waffe von einem dieser Staaten geliefert worden ist.“ Das NPG forderte zum Widerstand gegen diese Kriegsverbrechen auf.
Einsatz von Chemiewaffen in Werxelê dokumentiert
Die ANF-Korrespondentin Amargî Arhat Ba veröffentlichte am 5. Oktober Aufnahmen von der Kriegsfront zu einem Chemiewaffeneinsatz und erklärte: „Am 2. September setzte die türkische Armee beginnend in den frühen Morgenstunden sieben Mal Giftgas gegen die Guerillakämpfer:innen in den Kriegstunneln von Werxelê ein. Nach jedem gescheiterten Angriffsversuch wurde die Menge und Art des Gifgases geändert. Aber auch am 90. Tag des Widerstands von Werxelê konnten die Guerillakämpfer:innen nicht ausgeschaltet werden. Wie das Filmmaterial zeigt, benutzten die Soldaten zunächst ein Gerät, das Flammen ausstieß, gegen die Kriegstunnel von Werxelê. Dann bereiteten sie das Gerät darauf vor, Gas in die Tunnel zu leiten. Den Guerillakämpfer:innen gelang es jedoch mit eigenen Methoden, das Gas aus den Tunneln zu drücken. Als die mit Gasmasken ausgestatteten Soldaten bemerkten, wie das Gas aus dem Tunnel strömte, kehrten sie sofort um.
Am 3. September 2021 nahmen Guerillakämpferinnen der YJA Star in Avaşîn stationierte Soldaten ins Visier, infiltrierten ihre Stellungen von zwei Seiten und töteten fünf Soldaten. Am 4. September kehrten die türkischen Truppen in das Widerstandsgebiet von Werxelê zurück, um ihren Verlust zu rächen, und griffen Werxelê 17 Mal an. All diese Angriffe wurden von der Guerilla ausgehebelt. In den folgenden Tagen kehrte der türkische Staat erneut zurück und setzt schwere chemische Bomben gegen die Region ein.“