Im ersten Teil dieser zweiteiligen Analyse haben wir uns angeschaut, was die Türkei mit ihrem Angriffskrieg in Südkurdistan bezweckt und welche mittel- und langfristigen Ziele sie dabei verfolgt. Nun wollen wir zunächst einen Blick auf die vergangenen türkischen Militäroffensiven in Südkurdistan schauen, bevor wir uns mit den Reaktionen auf den neuerlichen Völkerrechtsbruch der Türkei beschäftigen.
Die Liste der grenzüberschreitenden Militäroperationen des türkischen Staates in Südkurdistan ist lang. Tatsächlich erfolgte die erste grenzüberschreitende Militäroffensive der Regierung in Ankara im Jahre 1983, also in einer Phase, als sich die Guerillakräfte der PKK erst noch formierten und den bewaffneten Kampf in der Türkei noch nicht aufgenommen hatten. Mit 7.000 Soldaten intervenierte das türkische Militär fünf Kilometer tief in südkurdisches Territorium, sonderlich erfolgreich verlief die Operation damals nicht. Denn nur knapp eine Woche nach Beginn der Militäroffensive zogen sich die türkischen Soldaten bereits am 2. Juni 1983 wieder zurück. Es folgten unzählige weitere Angriffskriege der Türkei in Südkurdistan. Ab Beginn der 90er Jahre konnte Ankara dabei immer wieder auch auf die Unterstützung der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) setzen. Doch bleibende Erfolge für sich verbuchte die Türkei bei keinem dieser Kriege. Ziel der Invasionen war es stets, die PKK vernichtend zu schlagen. Doch trotz unzähligen grenzüberschreitenden Militäroffensiven ist die PKK fast 40 Jahre nach der ersten Offensive weiterhin existent.
Gare-Angriff endete mit einem Fiasko
Die AKP scheint aus diesen militärischen Misserfolgen keine Lehren gezogen zu haben. Im Gegenteil, denn der aktuelle Angriff ist bereits der dritte Völkerrechtsbruch in Südkurdistan seit Anfang 2021. Am 10. Februar 2021 startete die türkische Armee den ersten dieser drei Angriffe. Das Zielgebiet war die Region Gare. Diese Operation dauerte nicht lange und endete in einem Fiasko: Schon nach drei Tagen zog sich das Militär zurück. Zudem kamen aufgrund der schweren Luftangriffe der türkischen Armee zwölf Staatsbedienstete der Türkei, die sich als Kriegsgefangene in der Hand der PKK befanden, ums Leben. Kurz nach dieser militärischen Niederlage startete die Türkei ab dem 23. April einen zweiten Großangriff in Südkurdistan. Die Ziele lauteten dieses Mal Metîna, Avaşîn und Zap. Die türkische Armee hat im Rahmen dieser Operation einige strategische Hügel unter ihre Kontrolle gebracht. Doch in den letzten Wochen und Monaten konnte sie keinerlei Fortschritte machen. Kenner der Region berichten, dass die türkischen Soldaten kaum ihre Stützpunkte verlassen können, da die Guerilla weiterhin das Feld beherrscht. Im Zuge dieses Krieges hat das türkische Militär zudem unzählige Male chemische Kampfstoffe eingesetzt, um die Tunnelsysteme der PKK in den Bergen unter ihre Kontrolle zu bringen. Ein internationaler Aufschrei gegen diese Kriegsverbrechen blieb allerdings aus. Am 17. April hat die Türkei nun den dritten Angriffskrieg in Südkurdistan in nur knapp 14 Monaten gestartet.
Welche Rolle spielt die Demokratische Partei Kurdistans im aktuellen Krieg?
Welchen Ausgang die aktuellen Kriegshandlungen der Türkei in Südkurdistan haben werden, hängt ein stückweit auch davon ab, welche Haltung die kurdische Bevölkerung und die politischen Parteien in der Region hierzu einnehmen werden. Vor wenigen Tagen hat sich Murat Karayılan im Namen der PKK direkt und mit deutlichen Worten an die kurdische Bevölkerung gewendet: „Unser Volk sollte wissen, wir betrachten diese Phase als Ausnahmesituation. Es ist die Zeit der Mobilisierung. Dementsprechend müssen alle das tun, was ihnen möglich ist. Wir befinden uns in einer sehr wichtigen und kritischen Phase. Sie ist extrem heikel. Wir müssen diese Angriffswelle des Feindes brechen.“
Dieser Appell macht deutlich, wie kritisch die PKK den aktuellen Angriffskrieg der Türkei bewertet. Ein Grund hierfür ist die Haltung der PDK unter der Führung des Barzanî-Clans. Die PDK-Verantwortlichen kamen in den letzten Wochen häufig mit türkischen Regierungsvertreter:innen zusammen. Zuletzt traf der Premierminister der Kurdistan-Region Irak (KRI), Mesrûr Barzanî, mit dem türkischen Staatspräsidenten Erdoğan und dessen Geheimdienstchef Hakan Fidan am 15. April, also zwei Tage vor Beginn der Offensive, in Istanbul zusammen. Bereits zwei Wochen zuvor kursierten hartnäckige Gerüchte in kurdischen Medien, dass die PDK der Türkei bei einer anstehenden Militäroperation in Südkurdistan zur Seite stehen möchte. Es seien sogar Provokationen in Südkurdistan geplant, die der PKK in die Schuhe geschoben werden sollten, um auf diese Weise einen Kriegseintritt der PDK vor der kurdischen Bevölkerung zu legitimieren. Zu den Provokationen kam es nicht. Doch die PDK unterstützt offenkundig den türkischen Angriffskrieg. Bereits am ersten Tag des Krieges hoben türkische Kampfhubschrauber nicht von der türkischen Seite der Grenze zum Angriff ab, sondern von Südkurdistan. Dies geschieht in Abstimmung mit den PDK-Verantwortlichen. Der Plan ist wohl, die von der PKK kontrollierten Gebiete sowohl vom Norden, also von Seiten der türkischen Grenze, als auch vom Süden heraus, anzugreifen.
Am 20. April verteidigte Mesrûr Barzanî bei einem Besuch in London die türkische Militäroffensive in Südkurdistan öffentlich: Es sei nicht die Türkei, sondern die PKK, welche das kurdische Autonomiegebiet in Südkurdistan nicht respektiere. Die PKK ziehe die Türkei nach Südkurdistan rein und sei dafür verantwortlich, dass 800 Dörfer wegen andauernder Kriegshandlungen geräumt werden mussten. Mit diesen Aussagen, die Barzanî bei einem Auftritt bei der Denkfabrik Chatham House von sich gab, stellte er relativ deutlich klar, auf welcher Seite er sich beim aktuellen Angriffskrieg positioniert. Während seines Besuches in London wurde er übrigens von wütenden kurdischen Demonstrant:innen empfangen, die sein Fahrzeug mit Eiern bewarfen.
Und wie sehen die übrigen Reaktionen in Südkurdistan und im Irak aus?
Alle weiteren Reaktionen sowohl in Südkurdistan als auch in Bagdad sind relativ einhellig: Die Patriotische Union Kurdistans (YNK) verurteilt die türkische Offensive ebenso wie das irakische Außenministerium. Auch Muqtada al-Sadr, der Anführer der größten Fraktion im irakischen Parlament, verurteilte den Angriffskrieg und warnte die Türkei. Der Irak werde als souveränes Land nicht gegenüber den türkischen Angriffen schweigen, so Sadr. Sowohl im Irak als auch in Südkurdistan steht die PDK somit allein mit ihrer Unterstützung für Ankaras Offensive da. Ob die warnenden Worte der übrigen politischen Akteur:innen in Erbil und Bagdad ausreichen werden, um den Angriffskrieg tatsächlich zu stoppen, ist allerdings fraglich.
Wie sieht es um die internationalen Reaktionen aus?
Denn in der internationalen Staatengemeinschaft herrscht derzeit großes Schweigen gegenüber dem türkischen Angriffskrieg. Und Schweigen bedeutet in diesem Zusammenhang Zustimmung. Die Türkei nutzt nicht nur den internationalen Fokus auf den Ukrainekrieg aus, um ihre Invasion zu führen. Das AKP-Regime hat wohlmöglich auch grünes Licht von ihren NATO-Partnern für den grenzüberschreitenden Angriff erhalten. Der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar hatte im Februar dieses Jahres noch die Münchener Sicherheitskonferenz besucht und sich mit den Bündnispartner:innen zweifelsohne auch über die militärischen Pläne seines Landes ausgetauscht. Dort kam es übrigens auch zu einer Zusammenkunft mit einem weiteren Mitglied der Barzanî-Familie, dem KRI-Präsidenten Nêçîrvan Barzanî. Im Anschluss an diese Zusammenkunft erklärte Akar: „Es war ein sehr positives und konstruktives Treffen. Ich bin der Meinung, dass unser Treffen einen bedeutenden Beitrag sowohl für unsere Länder als auch für das NATO-Bündnis leisten wird.“
Der Angriffskrieg in Südkurdistan dürfte demnach mit den NATO-Staaten abgestimmt sein, was das kollektive Schweigen in der westlichen Staatengemeinschaft erklärt. Das gilt auch für die Bundesregierung, die mit ihrer Kritik am völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands in der Ukraine zugleich aber auch ihre Scheinheiligkeit offenbart. Völkerrechtsbruch, Angriffskriege, der (mögliche) Einsatz von chemischen Waffen, Luftangriffe und gezielte Tötung von Zivilist:innen, all das wird zu Recht verurteilt und kritisiert, wenn es um den russischen Einmarsch in der Ukraine geht. Dass aber der NATO-Partner Türkei eben jene Praxis in Kurdistan praktiziert, davor verschließt man in Berlin lieber die Augen.
Und warum geht uns dieser Krieg überhaupt etwas an?
Die Bundesregierung schweigt aber nicht ohne Grund. Sie unterstützt seit jeher den türkischen Krieg in Kurdistan. Das tut sie seit Jahrzehnten und zwar nicht nur mit wirtschaftlicher und militärischer Unterstützung, sondern auch durch die Kriminalisierung kurdischer Aktivist:innen in Deutschland. Auch im aktuellen Angriffskrieg kommt deutsche Waffentechnik zum Einsatz. Dass die türkischen Kampfdrohnen, mit denen immer wieder Menschen in Rojava und Südkurdistan gezielt ermordet werden, mit Zielerfassungssystemen des deutschen Rüstungsunternehmens Hensoldt ausgestattet sind, hatte das Politmagazin Frontal 21 bereits Ende vergangenen Jahres öffentlich gemacht. Die Türkei gehörte auch im Jahr 2021 zu den Hauptabnehmer:innen deutscher Rüstungsexporte. Ob die Türkei ihre Angriffskriege in Kurdistan weiterhin ungestört führen kann, hängt maßgeblich auch davon ab, ob Deutschland weiterhin ungestört die Türkei bei ihren Kriegen unterstützen kann. Wie weit die staatlichen Stellen in Deutschland gehen, um sich da nicht reinfunken zu lassen, haben sie im vergangenen Jahr eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Als im Juni Aktivist:innen aus Deutschland nach Südkurdistan reisen wollten, um die letzte türkische Invasion in Südkurdistan zu dokumentieren, erteilte die Bundespolizei kurzerhand 16 Personen ein Ausreiseverbot. Wer sich also für den Frieden in Kurdistan einsetzt, könnte in Konflikt mit den außenpolitischen Interessen der Bundesrepublik geraten.
Dass der Einsatz für Frieden heute wichtiger denn je ist, braucht keine weiteren Ausführungen. Auch eine klare Haltung gegen völkerrechtswidrige Angriffskriege zu haben, ist wichtiger denn je und kann einen Beitrag dazu leisten, zukünftige Kriege zu verhindern. Das alles gilt für den aktuellen Krieg in der Ukraine ebenso wie für Kurdistan. Und wenn die Staatengemeinschaft, auch die deutsche Bundesregierung, zu den Kriegen des AKP-Regimes in Kurdistan schweigt, ja diese sogar unterstützt, dann liegt die Verantwortung umso mehr bei der Gesellschaft. In diesem Sinne können und sollten wir alle unseren Beitrag für ein Ende der Kriege in Kurdistan, in der Ukraine und überall auf der Welt leisten.