Mindestens 88 Journalistinnen und Journalisten sitzen derzeit in der Türkei im Gefängnis. Darauf macht die kurdische Medienorganisation Dicle Fırat (DFG) in einem aktuellen Bericht zu Repressionen und Rechtsverletzungen im Bereich der Presse- und Meinungsfreiheit aufmerksam. Der Verein mit Sitz in Amed (tr. Diyarbakır) warnt von einer „routinierten Form der Unterdrückung und Diskriminierung“ von oppositionellen Medien und im kritischen Journalismus tätigen Personen, die auf ein „neues dunkles Kapitel“ hinweise. „Hinterfragende Medienschaffende werden als Feinde behandelt und als Zielscheibe beispielloser Repressalien freigegeben“, betont DFG.
„Durch den Missbrauch von Gesetzen und dem Erlass neuer Verordnungen, die gezielt zur erweiterten Knebelung der letzten Bastionen der Pressefreiheit beschlossen werden, versucht das Regime die Arbeit von Medienschaffenden zu verhindern“, heißt es in dem Bericht mit Verweis auf das kürzlich im türkischen Parlament verabschiedete, viel kritisierte Gesetz zur „Bekämpfung von Desinformation“. Kaum war die Verordnung im Oktober auf den Weg gebracht worden, wurden elf Mitarbeiter:innen der freien kurdischen Presse bei einer landesweiten Operation festgenommen. Neun von ihnen sitzen inzwischen unter Terrorvorwürfen in Untersuchungshaft. DFG bezeichnet den Vorgang als „Feldzug gegen unabhängigen Journalismus unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den Terrorismus“.
In nächster Zeit werde man viele weitere willkürliche Ermittlungen und Gerichtsverfahren sehen, ist sich die Organisation sicher. Einige Medien würden zudem unweigerlich Selbstzensur betreiben, Nutzende digitaler Medien könnten ebenfalls auf Grundlage des Gesetzes kriminalisiert werden. Ein bis drei Jahre Gefängnis für die Verbreitung von „falscher oder irreführender Nachrichten“ – das sieht die Verordnung vor. „Im Hinblick auf die als dramatisch zu bezeichnende Lage in Sachen Meinungs- und Pressefreiheit stellen fest, dass die vernichtende Praxis der neunziger Jahre keinesfalls Vergangenheit ist. Die Unterdrückung ist die gleiche geblieben, nur die Formen haben sich geändert.“
Dazu zählten unter anderem Einschüchterungsmethoden wie grundlose Festnahmen und Verhaftungen, Anklagen wegen vermeintlicher Terrorismusunterstützung oder Präsidentenbeleidigung, Sperrung von Twitter-Accounts und Behinderungen bei der Vorort-Recherche, Bedrohungen auf der Straße und in sozialen Netzwerken. Zehn Journalistinnen und Journalisten sind allein im Vormonat verhaftet worden, fünf wurden zu unterschiedlich hohen Haft- und Geldstrafen verurteilt. Im Fall von mindestens 59 Medienschaffenden sind Verfahren weiter anhängig, knapp zwei Dutzend Rechtsverletzungen an bereits inhaftierten Journalist:innen wurden gezählt. Hinzu kommen gewaltsame Übergriffe auf Medienschaffende bei der Ausübung ihrer Tätigkeit, etwa während der Begleitung öffentlicher Proteste.
„Zwar gehört all das schon seit Jahren zum Alltag kritischer Medienschaffender in der Türkei“, unterstreicht DFG. Und doch hätte die Repression in der letzten Zeit eine neue Qualität erlangt, die nicht als bloße Steigerung des Bisherigen begriffen werde. Wer zudem aus den kurdischen Regionen berichtet, werde von Behörden und Justiz noch härter angefasst. Den von Ankara in Auftrag gegebenen Mord an der Journalistin und Jineolojî-Expertin Nagihan Akarsel in Südkurdistan bezeichnet DFG als „unmissverständliche Warnung an alle kritischen Medienschaffenden“. Damit solle an die Praxis der 1990er Jahre erinnert werden, als es im kurdischen Teil der Türkei regelmäßig Todesschüsse auf Journalist:innen gab.