Türkei führt Haftstrafen für Verbreitung von „Desinformation“ ein

Ein bis drei Jahre Gefängnis für die Verbreitung von „falscher oder irreführender Nachrichten“ – das sieht ein neues Gesetz in der Türkei vor, das mit den Stimmen der islamofaschistischen Regierungskoalition aus AKP und MHP im Parlament gebilligt wurde.

Ein bis drei Jahre Gefängnis für die Verbreitung von „falscher oder irreführender Nachrichten“ – das sieht ein neues Gesetz vor, das am Donnerstagabend mit den Stimmen der islamofaschistischen Regierungskoalition aus der Erdoğan-Partei AKP und dessen rechtsextremistischen Verbündeten von der MHP im türkischen Parlament gebilligt wurde. Acht Monate vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen hat die Führung in Ankara ein weiteres Instrument zur Unterdrückung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Türkei eingeführt.

Mit dem neuen „Pressegesetz“ wird unter dem Vorwand, die Verbreitung von Falschinformationen zu unterbinden, jegliche noch bestehende kritische Berichterstattung kriminalisiert. Genauer soll bestraft werden, wer „unwahre Informationen bezüglich der inneren und äußeren Sicherheit, der öffentlichen Ordnung und der allgemeinen Gesundheit verbreitet, mit dem Ziel, Besorgnis, Angst oder Panik in der Bevölkerung zu erzeugen und den gesellschaftlichen Frieden zu stören.“ De facto kann damit potentiell jede Person straffällig werden, die der Regierung unliebsame Informationen in den sozialen Netzwerken verbreitet.

Anonymität im Internet wird praktisch abgeschafft

Denn außer gegen Zeitungen, Radio und Fernsehen richtet sich das neue Gesetz vor allem gegen digitale Netzwerke und Online-Medien. Sie werden aufgefordert, Nutzende zu denunzieren und alle Informationen über die Autor:innen herauszugeben, damit ein Gerichtsverfahren gegen sie eröffnet werden kann. Die Anonymität im Internet wird damit praktisch abgeschafft. Akkreditierten Journalist:innen droht zudem der Entzug des Presseausweises.

Die Regierungskoalition, die dem Parlament den Entwurf im vergangenen Mai vorgelegt hatte, argumentiert, Desinformation habe sich zu einer „ernsthaften Bedrohung“ für den Zugang zu „wahren“ Informationen entwickelt. Die Bekämpfung einer solchen „Bedrohung“ sei notwendig, um Grundrechte und Grundfreiheiten zu schützen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte soziale Medien in der Vergangenheit etwa als Bedrohung für die Demokratie bezeichnet.

Opposition: Verschärftes Zensurgesetz

Die Opposition dagegen spricht von einem verschärften „Zensurgesetz“. „Im Kontext der systematischen Kriminalisierung nahezu aller politischen Aktivitäten und alternativen Berichterstattung in einem Land wie der Türkei, wo es feste Zensurmechanismen gibt und staatliche Unterdrückung allgegenwärtig ist, besteht der Hauptzweck dieser Art von Regulierung darin, eingeschränkte Rechte und Freiheiten vollständig zu beseitigen. Angestrebt wird eine Gesellschaft, die nicht hinterfragt, schweigt und sich selbst zensiert. ‚Desinformation‘ wird als neuer Straftatbestand eingeführt, um damit eine ‚Strafbarkeitslücke‘ für die Oppositionsparteien, Zivilgesellschaft und unabhängige Presse zu schließen, Medieneinrichtungen sowie Journalistinnen und Journalisten zur Selbstzensur zu zwingen und kritische Ansichten aus dem Weg zu räumen. Auf die Interessen der politischen Macht wird sich das vermeintliche Desinformationsgesetz selbstverständlich nicht auswirken“, hatte etwa die Demokratische Partei der Völker (HDP) erklärt.

Verbände: Wahlkampforientierte Regelung

Journalistenvereinigungen und -gewerkschaften protestierten seit Monaten gegen das nun verabschiedete Desinformationsgesetz. Sie sehen die Meinungsfreiheit bedroht und warnen, die „wahlkampforientierte Regelung“ könne zu einem der strengsten Zensur- und Selbstzensurmechanismen in der Geschichte der türkischen Republik werden. Erdogan, der Kritiker seit langem mundtot zu machen versucht, will sich im kommenden Jahr im Amt bestätigen lassen. Es dürfte für ihn die schwierigste Wahl seit Beginn seiner Amtszeit vor fast zwei Jahrzehnten werden. Die Umfragewerte seiner Regierungspartei sind wegen einer galoppierenden Inflation und einer Währungskrise auf einem historischen Tief.

Was überhaupt sind „Fehlinformationen“?

Die Beratungen über das neue Pressegesetz hatten Anfang Oktober begonnen. Zu den 40 Artikeln hatte es zwar zahlreiche Änderungsanträge der Opposition gegeben, die aber allesamt abgewiesen wurden. „Dieses Gesetz erklärt der Wahrheit den Krieg“, sagte die HDP-Vizefraktionsvorsitzende Meral Danış Beştaş am Donnerstag im Parlament. „Es wurde verabschiedet, um die sozialen Medien vollständig zum Schweigen zu bringen und den Faschismus ungehindert durchzusetzen“, so die Abgeordnete.

Was für weiteren Zündstoff sorgt, ist, dass das neue Gesetz einen sehr großen Spielraum dafür bietet, was überhaupt „Fehlinformationen“ sind. Befürchtet wird auch, dass die Regelung die Verbreitung wichtiger Informationen und legitimer Anliegen nicht nur bestrafen, sondern auch verhindern könnte. Die Venedig-Kommission (Europäische Kommission für Demokratie durch Recht) stellte unlängst fest, dass die Bestimmung gegen Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verstößt und damit einen Eingriff in das Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit bedeutet. Ein entsprechendes Dringlichkeitsgutachten soll bei der Plenarsitzung der Kommission Ende Oktober verabschiedet werden.

Unterdrückung der Medien zur Passivierung der Gesellschaft

In der Türkei sind rund 95 Prozent der Print- und Fernsehmedien in der Hand des Staates oder unter der Kontrolle von Unternehmen, die dem Erdogan-Regime nahestehen. Der Druck auf unabhängigen Journalismus ist in den vergangenen Jahren immer größer geworden. Insbesondere seit dem Pseudoputsch im Juli 2016 schließt sich das Fenster für regierungskritische Medien immer weiter. Nach Angaben des kurdischen Journalistenvereins Dicle-Firat (DFG) sitzen derzeit mindestens 72 Journalistinnen und Journalisten in der Türkei im Gefängnis. Zwar ist das ein deutlicher Rückgang zum Höchststand von 170 im Jahr 2017, allerdings sind mindestens genauso viele Medienschaffende derzeit gerichtlicher Verfolgung ausgesetzt.

Auf Platz 149 von 180 in der internationalen Rangliste der Pressefreiheit

Die Organisation Reporter ohne Grenzen (RSF) verortet die Türkei auf Platz 149 von 180 in der internationalen Rangliste der Pressefreiheit. Auch der Medienpluralismus im Land ist weitgehend zerstört. Dennoch gibt es noch immer unabhängige Medienorganisationen, die nicht ans Kapitulieren denken und trotz aller Schwierigkeiten ihre Nachrichten an die Öffentlichkeit vermitteln, vor allem im digitalen Raum. Die Online-Redaktionen laufen den nahezu vollständig gleichgeschalteten Medien zunehmend den Rang ab. Und sie sind schwerer zu kontrollieren als die klassischen Analog-Redaktionen. Bisher jedenfalls.