Eine Diktatur zeichnet sich unter anderem durch die Gleichschaltung der Medien und ein Informationsmonopol aus. Die türkischen Regierungsparteien AKP und MHP haben am 27. Mai einen Gesetzentwurf ins Parlament eingebracht, der unter anderem für die vorsätzliche Verbreitung von „Desinformationen und gefälschten Nachrichten” bis zu drei Jahren Haftstrafe vorsieht. Journalistenverbände kritisieren den Entwurf als „Zensurgesetz“. Rechtsanwalt Veysel Ok ist Ko-Direktor der Media and Legal Studies Association (MLSA) und hat sich gegenüber ANF zu den Hintergründen geäußert.
Informationen sollen monopolisiert werden
Veysel Ok sagt: „Die AKP-Regierung versucht seit dem Putschversuch vom 15. Juli [2016], die Medien zu kontrollieren. Sie hat die Kapitalstruktur der Mainstream-Medien verändert; jetzt gehören mehr als 90 Prozent dem regierungsnahen Kapital. Oppositionelle und kurdische Medieneinrichtungen wurden zu dieser Zeit verboten. Außerdem wurde das Internetgesetz bereits mehrmals geändert. Das neue Gesetz zwang Medienunternehmen, Büros in der Türkei zu eröffnen und die persönlichen Daten türkischer Nutzer an den Staat weiterzugeben, aber das reichte nicht aus. Die Regierung hat es immer noch nicht geschafft, die sozialen Medien zu kontrollieren, und trotz allem sind es die sozialen Medien und der Journalismus, die in der Türkei die Tagesordnung bestimmen. Die Regierung ist sich dessen bewusst, und mit diesem Zensurgesetz will sie diesen Kontrollmechanismus weiter verstärken und Informationen monopolisieren."
Nicht nur Journalist:innen sind betroffen
Veysel Ok erinnert daran, dass die Debatte über dieses Gesetz im letzten Jahr während der Brände in der türkischen Ägäis-Region aufgekommen ist: „Die Diskussion über dieses Nachrichten- und Informationsgesetz begann mit den Bränden in Bodrum im letzten Jahr. Damals wurde ein Begriff wie ,Verbreitung irreführender Informationen' diskutiert, und so ist es auch jetzt. Wichtig ist dabei, dass diese Situation nicht nur Journalistinnen und Journalisten, sondern auch Politiker und Bürger betrifft. Mit anderen Worten: Das ,Verbrechen der Verbreitung irreführender Informationen in der Öffentlichkeit' ist keine Straftat, die nur Journalistinnen und Journalisten begehen können. Es kann von allen Bürgerinnen und Bürgern begangen werden. Wenn dieses Gesetz in Kraft tritt, wird niemand in der Türkei in der Lage sein, Informationen zu veröffentlichen, die von der Regierung nicht gewollt oder gebilligt sind, und wenn sie es doch tun, werden sie gerichtlich verfolgt."
Journalismus unter Druck: In Amed sind am 15. Juni 16 Journalist:innen verhaftet worden
Der Journalismus in der Türkei stehe ohnehin bereits unter großem Druck, sagt Ok und führt weiter aus: „Wenn Sie Informationen verbreiten, die von der Regierung nicht erwünscht sind, von Waldbränden bis zum Dollarkurs, von der kurdischen Frage bis zur Syrienpolitik, kann sowohl Ihr Konto in den sozialen Medien geschlossen werden als auch Ihnen eine Gefängnisstrafe von bis zu drei Jahren drohen. So hat beispielsweise der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu in den sozialen Medien eine Korruptionsbehauptung aufgestellt, doch mit dem neuen Gesetz wird er dies nicht mehr tun können. Auch Journalistinnen und Journalisten machen ihre Arbeit in den sozialen Medien. Die Bürgerinnen und Bürger werden nicht einmal mehr in der Lage sein, eine andere Meinung als die offizielle Erklärung der Regierung zu irgendeinem Thema - von den Haselnusspreisen bis zum Waldbrand in Marmaris - zu äußern."
Kein Zugang zu Nachrichten
Ok erklärt weiter: „ Bisher ist beispielsweise ein kurdischer Journalist, der das Bild eines in die Luft schießenden Polizeibeamten während einer Verhaftung in Başkale veröffentlichte, wegen ,Propaganda und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung' vor Gericht gestellt worden. Mit dem neuen Gesetz würde er auch wegen ,Irreführung der öffentlichen Meinung' und ,Verbreitung falscher Informationen' angeklagt werden. Der Social-Media-Account, auf dem er die Nachricht gepostet hat, wird sofort gesperrt. Es sieht so aus, als würde unser Zugang zu solchen Nachrichten völlig verschwinden.“
„Wahlkampforientierter Gesetzentwurf“
Bei dem geplanten Gesetz handele es sich um eine „wahlkampforientierte Regelung“, sagt Rechtsanwalt Veysel Ok: „Dies ist das Problem aller Bürgerinnen und Bürger. Heute gibt es einen Oppositionskandidaten, der einen Regierungswechsel herbeiführen könnte, vorausgesetzt, er gewinnt die Wahlen. Wenn dieses Gesetz verabschiedet wird, wird der Oppositionskandidat nicht mehr in der Lage sein, seine Rede zu halten. Dies wurde bereits in Ländern wie Russland und China versucht. Es war teilweise erfolgreich. Natürlich gibt es keine Möglichkeit, auf Dauer erfolgreich zu sein. Niemand kann Informationen monopolisieren, aber die Verabschiedung dieses Gesetzes vor der Wahl beeinträchtigt die Sicherheit der Wahlen. Morgen werden die HDP oder die CHP nicht mehr in der Lage sein, ihre Meinung in den sozialen Medien frei zu äußern. Auch Nichtregierungsorganisationen sind davon betroffen. So veröffentlicht die MLSA beispielsweise Berichte über die freie Meinungsäußerung und der Menschenrechtsverein IHD Berichte über Gefängnisse. Auch diese Berichte können in den Bereich der Irreführung der Öffentlichkeit fallen. Deshalb denke ich, dass wir in der Türkei in jeder Hinsicht ein ernstes Problem haben werden."