DFG: 72 Medienschaffende in der Türkei im Gefängnis

Der Journalistenverein DFG hat seinen September-Bericht über Rechtsverletzungen gegen Medienschaffende in der Türkei veröffentlicht. Demnach befinden sich mindestens 72 Journalist:innen derzeit im Gefängnis, gegen genauso viele sind Verfahren anhängig.

Der Journalistenverein Dicle-Firat (DFG) hat seine Bilanz zu Verletzungen der Rechte von Journalist:innen durch den türkischen Staat für den Monat September veröffentlicht. Darin erinnert der Verband zunächst an die Ermordung der Journalistin und Wissenschaftlerin Nagihan Akarsel bei einem Attentat vergangenen Dienstag in Silêmanî. Akarsel war Mitglied der Akademie für Jineolojî und Redakteurin für die gleichnamige Zeitschrift. Hinter dem Anschlag wird der türkische Geheimdienst MIT vermutet. Der DFG erklärt: „Das ist eine schlimme Nachricht für alle Journalist:innen und die Menschheit insgesamt. Als Kolleg:innen, die Akarsels Journalismus und ihren Kampf kennen, verurteilen wir diesen Angriff. Wir wissen, dass dieser Angriff auf Akarsel, die viele Jahre lang als Journalistin gearbeitet und in der Jineolojî, der Wissenschaft der Frauen, geforscht hat, auf ihre Suche nach Wahrheit abzielte. Wir sagen denjenigen, die Nagihan Akarsel ermordet haben, noch einmal, dass kein Massaker die Feder der Wahrheit brechen kann. Ob in unseren Redaktion oder auf der Straße - wir machen deutlich, dass wir ihren Kampf um Wahrheit und ihre journalistische Arbeit weiterführen werden. Nagihan Akarsel ist eine Gefallene der freien Presse und sie wird uns ein Licht im Kampf für die Wahrheit sein.“

Gericht ermordete Apê Musa ein weiteres Mal“

Der DFG verurteilt außerdem, dass das Verfahren wegen der Ermordung des kurdischen Intellektuellen und Autors Musa Anter am 20. September 1992 von der türkischen Justiz als verjährt betrachtet wird. „Am 30. Jahrestag der Ermordung unseres Lehrers Apê Musa (Musa Anter) hat die Justiz seine Mörder freigesprochen. Das Gericht, das in der vorangegangenen Anhörung keine Schritte zur Verfolgung der Täter und der Kräfte hinter ihnen unternommen und den Verhandlungstermin bewusst für den 21. September, einen Tag nach dem 30. Todestag, angesetzt hatte, stellte das Verfahren aus Gründen der Verjährung ein. Das Gericht, das den Anträgen auf Betrachtung des Mordes als ‚Verbrechen gegen die Menschlichkeit‘ nicht stattgab, belohnte die Täter mit dieser Entscheidung und ermordete Musa Anter ein weiteres Mal in Zusammenarbeit mit den finsteren Kräften der 1990er Jahre. Wir als Nachfolger:innen von Apê Musa verurteilen das Urteil und erklären, dass wir diesen Fall weiter verfolgen werden.“

Presse soll durch Zensurgesetz zum Schweigen gebracht werden“

Der DFG äußert sich auch kritisch über das „Gesetz zur Verhinderung von Desinformation“ und bezeichnet es als „Zensurgesetz“. Die Regelung, die die Presse de facto zum Schweigen bringen soll, wurde vom AKP/MHP-Regime am 27. Mai ins Parlament eingebracht und beinhaltet unter anderem für die „vorsätzliche Verbreitung von Desinformationen und gefälschten Nachrichten” Haftstrafen von bis zu drei Jahren. Der DFG erklärt: „Als Medienschaffende wissen wir, dass dieses Gesetz darauf abzielt, die Zensur auf die gesamte Gesellschaft auszuweiten. Wir warnen, dass dieses Gesetz die Verstöße gegen die Presse- und Meinungsfreiheit verschärfen wird und dass digitale Medienplattformen, die eine Alternative im Bereich der Kommunikation darstellen, unter die Kontrolle der Regierung gestellt werden sollen.

Wir lehnen dieses Gesetz in aller Deutlichkeit ab und betonen noch einmal die Bedeutung der Solidarität und des gemeinsamen Kampfes für seine sofortige Abschaffung. Dieses Gesetz, das die gesellschaftliche Opposition, die Presse-, Meinungs- und die Gedankenfreiheit unterdrücken soll, ist ein umfassendes Zensurgesetz in allen Bereichen. Schon vor der Verabschiedung des Gesetzes werden wir Zeug:innen, wie sich dieses Gesetz manifestieren wird. Wir erstellen zwar jeden Monat Berichte über die Denk- und Meinungsfreiheit sowie die Pressefreiheit, doch die Tatsache, dass selbst diese Berichte blockiert werden, zeigt deutlich, an welchem Punkt der Journalismus in der Türkei angelangt ist bzw. an den er gebracht wurde. Wir rufen alle auf, gemeinsam für die Rücknahme des Gesetzentwurfs zu kämpfen, von dem die ersten beiden Artikel bereits in der Generalversammlung des Parlaments angenommen wurden.“

Gefangene Journalist:innen

In dem Bericht nimmt der DFG auch Bezug auf die Situation der gefangenen Journalist:innen und weisen insbesondere auf den Warnhungerstreik der Gefangenen hin: „Safiye Alağaş, Neşe Toprak, Remziye Temel und Elif Üngür, die zu den 16 Journalist:innen gehören, die am 8. Juni bei einer Operation in Diyarbakır verhaftet wurden, traten in einen Hungerstreik, um gegen Überwachung, Leibesvisitationen, Verhinderung der Behandlung kranker Gefangener und Einschränkung der Aktivitäten im Frauengefängnis von Diyarbakır zu protestieren. Die Journalist:innen traten gemeinsam mit anderen Gefangenen ‚als Warnung vor zunehmenden Rechtsverletzungen‘ in einen fünftägigen Hungerstreik.“

Der DFG erinnert auch an Gurbetelli Ersöz, deren Todestag am 7. Oktober 1997 in Kurdistan als Tag der kurdischen Journalistinnen begangen wird. Die studierte Chemikerin und Journalistin war Chefredakteurin der pro-kurdischen Zeitung Özgür Gündem. Nachdem sie in der Türkei in Haft kam und gefoltert worden war, schloss sie sich 1994 der Guerilla an. 1997 fiel sie im „Südkrieg”.

Verhaftungen, Festnahmen und Internetsperren

Zur Lage der Journalist:innen in der Türkei heißt es in dem Bericht des DFG, dass im September fünf Pressevertreter:innen festgenommen, zwei verhaftet, zwölf misshandelt, sieben bedroht, gegen vier Ermittlungen eingeleitet, sieben angeklagt, 15 an der Berichterstattung gehindert wurden und sechs weitere Rechtsverletzungen in den Gefängnissen erlebten. Außerdem wurden neun Journalist:innen zur jahrelangen Haftstrafen verurteilt, 72 stehen vor Gericht und 72 sind weiterhin inhaftiert. Die Rundfunkbehörde hat Geldstrafen und Sendeverbote gegen drei Sender verhängt, fünf Sendungen gesperrt, drei Websites geschlossen, den Zugang zu 137 Nachrichten blockiert und den Inhalt von 18 Social-Media-Inhalten verboten.