Nagihan Akarsel unter „Jin, Jiyan, Azadî“-Rufen beigesetzt

Die vom türkischen Staat in Silêmanî ermordete kurdische Journalistin und Jineolojî-Expertin Nagihan Akarsel ist in ihrer Geburtsstadt Konya auf den Schultern von Frauen zu Grabe getragen worden – unter Militärbelagerung.

Die bei einem Attentat des türkischen Geheimdienstes MIT in der vergangenen Woche in Silêmanî ermordete kurdische Journalistin und Akademikerin Nagihan Akarsel ist in ihrer zentralanatolischen Geburtsstadt Konya beigesetzt worden. Vor der Beerdigung wurde im staatlichen Krankenhaus von Konya eine Autopsie durchgeführt, anschließend geleitete ein Konvoi den Sarg in das Dorf Gölyazı (ku. Xelîkan) im Kreis Cihanbeyli, aus dem Akarsel stammte.

Entlang der Straße, die der Trauerzug bis in die Ortschaft passierte, standen Menschen dicht an dicht und spendeten Nagihan Akarsel Applaus. Viele riefen „Jin, Jiyan, Azadî“ (Frau, Leben, Freiheit), trillerten das kurdische „Tililî“ und riefen „Nagihan ist unsterblich“. In Gölyazı schulterten Frauen den Sarg der ermordeten Jineolojî-Forscherin bis zum Friedhof, unter ihnen waren auch die HDP-Abgeordneten Nuran İmir, Fatma Kurtulan und Ayşe Acar Başaran.

Die Anteilnahme aus der Bevölkerung war groß, doch nur die wenigsten Trauergäste wurden auf den Friedhof zugelassen. Nicht nur um die Begräbnisstätte in dem Ort hatte das türkische Militär einen Belagerungsring gezogen, um zu verhindern, dass die Zeremonie zu einer Demonstration wird. Praktisch war der gesamte Landkreis Cihanbeyli eingekesselt worden, auf vielen Verbindungsstraßen hatten Polizei und Armee Blockaden errichtet und hielten zahlreiche Fahrzeuge davon ab, Gölyazı zu erreichen. Als der Sarg von Akarsel schließlich zu ihrer letzten Ruhestätte gebracht wurde, versuchten Soldaten einer Gruppe von Frauen erfolglos, ein Transparent mit dem Foto der Ermordeten zu entreißen.


„Wir sind alle Nagihan“

„Wir sind alle Nagihan. Sie können sie ermordet haben, doch wir als ihre Weggefährtinnen werden das von ihr hinterlassene Erbe antreten und ihren Widerstand fortsetzen“, sagte Ayşe Acar Başaran, die zugleich Sprecherin des HDP-Frauenrates ist. Auf die Worte der Politikerin folgte das islamische Totengebet für Akarsel, daran anschließend wurde sie zur Beisetzung zu ihrem Grab getragen. Frauen legten lilafarbene Schals sowie rote Nelken ab, als Symbol der Frauenbewegung und ihres politischen Widerstands. Angehörige von Nagihan Akarsel dankten den Anwesenden, dass sie ihrer Tochter in den Stunden des Abschiedes so liebevoll gedachten und ihnen in Worten und Tat Trost spendeten. Kondolenzbesuche erhält die Familie in ihrem Haus in Gölyazı.

Protest gegen verhinderte Teilnahme

Unter den Trauergästen, deren Teilnahme an der Beerdigung durch die türkischen Sicherheitsbehörden verhindert worden ist, befand sich unter anderem eine Abordnung des Provinzverbands der HDP Ankara. Sie wurde am Eingang zu Cihanbeyli von Soldaten abgewiesen. Pakize Sinemillioğlu, Ko-Vorsitzende des Verbands, bezeichnete das willkürliche Teilnahmeverbot als „Ausdruck des Krieges” des türkischen AKP/MHP-Regimes gegen die kurdische Gesellschaft. Dieser Krieg werde nicht nur gegen Lebende geführt, sondern auch gegen Tote.

Zwei Medienschaffende festgenommen

„Wir sind an einem Punkt, an dem die Herrschenden sich nicht mehr damit zufriedengeben, unsere Menschen kaltblütig zu ermorden. Sie verweigern ihnen und uns auch einen würdevollen Abschied. Sie machen stets aufs Neue deutlich, dass mangelnde Respektlosigkeit vor den Toten der Kurdinnen und Kurden und ihren Hinterbliebenen Alltag auf den Friedhöfen des Landes ist“, kritisierte Sinemillioğlu. Bei der Begleitung der Beerdigung wurden zudem zwei Korrespondent:innen der Nachrichtenagentur Mezopotamya (MA) festgenommen: Dilan Babat und Fırat Can Arslan. Womit sie beschuldigt werden, ist unklar.

Wer war Nagihan Akarsel?

Nagihan Akarsel war eine bekannte Persönlichkeit in der kurdischen Community und in der internationalen Jineolojî-Bewegung, sie war seit dreißig Jahren politisch aktiv. Sie studierte Journalismus in Ankara und arbeitete lange Zeit als Journalistin und Autorin, unter anderem in der Redaktion der Zeitschrift „Jineolojî“. Aufgrund ihres Engagements in der kurdischen Bewegung war sie jahrelang in der Türkei im Gefängnis und nach 1994 zeitweise mit der kurdischen Politikerin Leyla Zana in einer Zelle. In Rojava förderte sie die Bildungsarbeit im Bereich der Jineolojî und recherchierte zur Geschichte von Frauen in Efrîn. In Şengal betrieb sie Feldforschung zur Situation von Frauen nach dem vom „Islamischen Staat“ (IS) begangenen Genozid und Femizid. Zuletzt arbeitete sie mit Frauen aus Südkurdistan im Forschungszentrum für Jineolojî. Eines ihrer laufenden Projekte war die Einrichtung einer kurdischen Frauenbibliothek. Vergangene Woche Dienstag (4. Oktober) wurde Nagihan Akarsel auf dem Weg zu der Frauenbibliothek in Silêmanî vor ihrer Wohnung erschossen. Sie wurde von elf Kugeln aus der Waffe eines MIT-Attentäters getroffen.