Jineolojî-Akademie: „Wir setzen Nagihan Akarsels Arbeit fort“

Vor einer Woche wurde Nagihan Akarsel bei einem Anschlag in Silêmanî ermordet. Die Jineolojî-Akademie dankt für die Anteilnahme und erklärt, dass die feministische Journalistin eine Kerze der Hoffnung angezündet hat, die niemals verlöschen wird.

Die Überführung des Leichnams von Nagihan Akarsel aus Südkurdistan in die Türkei wird voraussichtlich erst am Mittwoch stattfinden können. Eigentlich sollte der Sarg heute von Hewlêr (Erbil) nach Ankara geflogen werden. Aufgrund von Formalitäten, die noch beim irakischen Gesundheitsministerium anhängig sind, musste die Überführung nach Ankara und von dort aus nach Gölyazi in Konya-Cihanbeyli auf morgen verschoben werden.

Unterdessen hat die Jineolojî-Akademie sich für die zahlreichen Beileidsbekundungen nach dem Mord an der kurdischen Journalistin und Akademikerin vor einer Woche in Silêmanî bedankt. „Im Namen der Jineolojî-Akademie danken wir allen Einzelpersonen, Organisationen, politischen Parteien und Freiheitskämpfer:innen, die uns nach dem Anschlag, bei dem unsere Kampfgefährtin Hevala Zîlan - Nagihan Akarsel -, gefallen ist, ihre Botschaften per Telefon, E-Mail und über digitale Medien übermittelt haben. Wir danken allen, die ihr Beileid und ihre Unterstützung bekundeten und sich gegen diesen politischen Mord aussprachen. Wir danken all jenen, die mit uns waren, bis wir Hevala Nagihan nach Nordkurdistan überführten. Wir danken allen Menschen, die sich für Nagihan eingesetzt haben und Nagihan mit einem aufständischen Geist umarmen. Wir danken allen Frauen, die während dieses Prozesses den Schrei ,Jin, Jiyan Azadî' (Frau, Leben, Freiheit) nicht verstummen ließen“, heißt es in einer am Montag veröffentlichten Erklärung der Jineolojî-Akademie.

„Nagihan liebte ihr Land und war Internationalistin“

„Wenn gestern die Verbreitung der ,Jin, Jiyan, Azadî'-Philosophie und der Jineolojî der Traum von Nagihan Akarsel war, so ist sie heute der Traum von Hunderten von Frauen, die für Frieden und Freiheit kämpfen. Nagihan kämpfte ihr ganzes Leben lang für die Freiheit der Frauen und ein freies Leben. Sie liebte ihr Land, sie war eine Welatparez [Kurdin, die ihr Land liebt]. So sehr sie ihr Land auch liebte, sie überschritt die Grenzen ihres Landes und wurde zur Internationalistin. Ihr Geist ging über die Grenzen hinaus. Sie hat sich sehr für die Einheit der kurdischen Frauen eingesetzt. Nagihan hatte einen großen Traum. Sie wollte die Geschichte der kurdischen Frauen schreiben, die Werke kurdischer Frauen sammeln, ein situationsbezogenes Netzwerk von Frauen in Kurdistan aufbauen und die Wissenschaft der Frauen, die Jineolojî, fördern. Sie arbeitete unermüdlich daran, ihre Träume zu verwirklichen. Zusammen mit einer Gruppe kämpferischer, freiheitlicher Frauen entwickelte sie das Projekt des Archiv-, Forschungs- und Bibliothekszentrums für kurdische Frauen. Unsere Freundin Nagihan hat bis zu dem Tag (04.10.2022), an dem sie im Bezirk Baxtiyarî in Silêmanî von den finsteren Händen der faschistischen und besitzergreifenden Mentalität des türkischen Staates und seiner lokalen Partner brutal ermordet wurde, unermüdlich daran gearbeitet, die Grundlage für dieses Projekt zu schaffen“, erklären die Mitglieder der Jineolojî-Akademie.

„Macht Nagihans Träume zu euren eigenen Träumen“

Die Jineolojî-Akademie ruft dazu auf, Nagihan Akarsels Arbeit fortzusetzen: „Wir, die Jineolojî-Akademie und die Freundinnen von Nagihan, werden ihren Kampf fortsetzen, niemals aufgeben und niemals müde werden. Hevala Nagihan hat eine Kerze der Hoffnung angezündet. Wir werden diese Kerze nicht erlöschen lassen. Mögen ihr Geist und ihr Kampf in unserer Arbeit und unserem Kampf weiterleben. Durch unsere Studien werden wir ein Wissen und eine Wissenschaft mit Gefühlen, Gewissen und Ethik schaffen. Wie Hevala Nagihan sagte: Eine Wissenschaft, die vom Gewissen getrennt ist, wird unmoralisch und nachlässig, verliert ihren Sinn und weicht von der Wahrheit ab.

Wir danken allen für die mutige Teilnahme an der Zeremonie, mit der sie in ihre Heimatstadt geschickt wurde. Wir laden alle ein, die Umsetzung der Projekte zu unterstützen, die Nagihan begonnen hat. Wir laden euch ein, die Träume von Nagihan Akarsel zu euren Träumen zu machen. Wir rufen dazu auf, den Prozess so lange zu verfolgen, bis die Mörder von Nagihan Akarsel zur Rechenschaft gezogen werden, und sich gegen die unserem Land aufgezwungene Besatzung zu stellen.“

Wer war Nagihan Akarsel?

Nagihan Akarsel stammte aus Konya in der Türkei und war eine bekannte Persönlichkeit in der kurdischen Community und in der internationalen Jineolojî-Bewegung, sie war seit dreißig Jahren politisch aktiv. Sie studierte Journalismus in Ankara und arbeitete lange Zeit als Journalistin und Autorin, unter anderem in der Redaktion der Zeitschrift „Jineolojî“. Aufgrund ihres Engagements in der kurdischen Bewegung war sie jahrelang in der Türkei im Gefängnis und nach 1994 zeitweise mit der kurdischen Politikerin Leyla Zana in einer Zelle. In Rojava förderte sie die Bildungsarbeit im Bereich der Jineolojî und recherchierte zur Geschichte von Frauen in Efrîn. In Şengal betrieb sie Feldforschung zur Situation von Frauen nach dem vom „Islamischen Staat“ (IS) begangenen Genozid und Femizid. Zuletzt arbeitete sie mit Frauen aus Südkurdistan im Forschungszentrum für Jineolojî. Eines ihrer laufenden Projekte war die Einrichtung einer kurdischen Frauenbibliothek. Am 4. Oktober 2022 wurde Nagihan Akarsel auf dem Weg zu der Frauenbibliothek in Silêmanî vor ihrer Wohnung erschossen. Sie wurde von elf Kugeln getroffen. Der türkische Botschafter im Irak, Ali Riza Güney, hat die Täterschaft seiner Staatsführung faktisch zugegeben.

Fünf Attentate in einem Jahr

Die Türkei stand schon früh im Verdacht, verantwortlich für den Mord an Akarsel zu sein. Auch im Fall vier weiterer kurdischer Personen, die seit September 2021 in der Kurdistan-Region Irak zum Ziel von Schusswaffenattentaten geworden sind – nur eines der Opfer überlebte schwer verletzt – wurden die Anschläge dem türkischen Geheimdienst MIT zugeschrieben. Dessen Agenten bewegen sich vollkommen frei in der Region und werden von der regierenden Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) mit Aufklärung und Informationen unterstützt, das von ihr kontrollierte Gebiet gilt seit Jahren als Operationsbasis des MIT. Juristische Konsequenzen müssen die strafrechtlichen Verantwortlichen von Anschlägen auf kurdische Persönlichkeiten daher nicht fürchten. Die kurdische Bewegung wirft der Barzanî-Partei nicht von ungefähr vor, eine direkte Mitverantwortung für die Attentate zu tragen.

Identität mutmaßlicher Auftragsmörder weiter unklar

Die mutmaßlichen Mörder von Nagihan Akarsel sollen sich derweil noch immer in Haft der Polizei von Silêmanî befinden. Sie waren nach Angaben der Sicherheitsbehörden der Patriotischen Union Kurdistans (YNK) noch am Tattag in der Nähe von Koyê gefasst worden – an jenem Checkpoint, der die Grenze zwischen den Einflussgebieten der YNK und PDK markiert. Ihre Identität wurde noch immer nicht bekannt gegeben.