Staatsvertreter räumt Anschlag auf Nagihan Akarsel ein

Der türkische Botschafter im Irak hat faktisch eingeräumt, dass es sich bei dem tödlichen Attentat auf die kurdische Journalistin und Jineolojî-Forscherin Nagihan Akarsel um eine Operation des türkischen Staates handelte.

Bei dem tödlichen Attentat auf die Journalistin und Jineolojî-Forscherin Nagihan Akarsel in Südkurdistan handelte es sich offenbar tatsächlich um einen Auftragsmord der Regierung in Ankara. Der türkische Botschafter im Irak, Ali Riza Güney, hat die Täterschaft seiner Staatsführung faktisch eingeräumt. Bei der Eröffnungszeremonie eines Visa-Büros in Hewlêr (Erbil) wurde der türkische Regierungsvertreter vor Live-Kameras von einer Journalistin gefragt, was er über die Vorwürfe denke, der Mord an Akarsel gehe auf das Konto der Türkei. Güney antwortete: „Wir messen der Souveränität des Irak mehr Bedeutung bei als einige Elemente im Land selbst. (…) Der Irak ist schon seit jeher unser Nachbar, Freund und Bruder. Sicherheit, Stabilität und Wohlstand sind unsere Priorität im Irak. Unser Ziel ist es, unsere bilateralen Beziehungen als zwei souveräne Staaten frei von terroristischen Organisationen zu pflegen. Daraus ergibt sich unsere Sensibilität und Erwartung im Kampf gegen den Terrorismus. PKK-orientierte und mit der PKK in Verbindung stehende Ziele liegen im Zentrum unserer Aufmerksamkeit.“

Botschafter rechtfertigt türkische Militäraktionen im Irak

Zuvor rechtfertigte Güney die unter anderem vom wissenschaftlichen Dienst des deutschen Bundestags als völkerrechtswidrig eingestuften Militäroffensiven der Türkei gegen die PKK-Guerilla in Südkurdistan (Kurdistan-Region Irak) mit einer unterstellten „Unfähigkeit“ Bagdads und Hewlêrs, angeblich terroristischen Aktivitäten, die eine Bedrohung für die nationale Sicherheit der Türkei darstellten, wirksam Einhalt zu gebieten. „Die Verantwortung für die Bekämpfung terroristischer Organisationen liegt bei der irakischen Zentralregierung und der Regionalregierung. Fehlen Wille oder Fähigkeit, dieser Verantwortung gerecht zu werden, werden wir selbstverständlich Operationen zur Neutralisierung des Terrors, der auch für türkische Staatsbürger eine Bedrohung ist, durchführen – unabhängig von Grenzen und wo immer wir sind.“ Die türkische Präsenz im Irak werde das Land so lange aufrechterhalten und Militäraktionen weiterführen, wie „die Terrororganisation“ ihre Aktivitäten fortsetze.

Früher am Sonntag traf sich Güney mit KRI-Ministerpräsident Mesrûr Barzanî und PDK-Chef Mesûd Barzanî. Bei den Gesprächen ging es um gegenwärtige Entwicklungen im Irak, die Regierungskrise und die Beziehungen zwischen Ankara und Hewlêr.


Wer war Nagihan Akarsel?

Nagihan Akarsel stammte aus Konya in der Türkei und war eine bekannte Persönlichkeit in der kurdischen Community und in der internationalen Jineolojî-Bewegung, sie war seit dreißig Jahren politisch aktiv. Sie studierte Journalismus in Ankara und arbeitete lange Zeit als Journalistin und Autorin, unter anderem in der Redaktion der Zeitschrift „Jineolojî“. Aufgrund ihres Engagements in der kurdischen Bewegung war sie jahrelang in der Türkei im Gefängnis und nach 1994 zeitweise mit der kurdischen Politikerin Leyla Zana in einer Zelle. In Rojava förderte sie die Bildungsarbeit im Bereich der Jineolojî und recherchierte zur Geschichte von Frauen in Efrîn. In Şengal betrieb sie Feldforschung zur Situation von Frauen nach dem vom „Islamischen Staat“ (IS) begangenen Genozid und Femizid. Zuletzt arbeitete sie mit Frauen aus Südkurdistan im Forschungszentrum für Jineolojî. Eines ihrer laufenden Projekte war die Einrichtung einer kurdischen Frauenbibliothek. Vergangene Woche Dienstag (4. Oktober) wurde Nagihan Akarsel auf dem Weg zu der Frauenbibliothek in Silêmanî vor ihrer Wohnung erschossen. Sie wurde von elf Kugeln getroffen.

Fünf Attentate in einem Jahr

Die Türkei stand schon früh im Verdacht, verantwortlich für den Mord an Akarsel zu sein. Auch im Fall vier weiterer kurdischer Personen, die seit September 2021 in der Kurdistan-Region Irak zum Ziel von Schusswaffenattentaten geworden sind – nur eines der Opfer überlebte schwer verletzt – wurden die Anschläge dem türkischen Geheimdienst MIT zugeschrieben. Dessen Agenten bewegen sich vollkommen frei in der Region und werden von der regierenden Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) mit Aufklärung und Informationen unterstützt, das von ihr kontrollierte Gebiet gilt seit Jahren als Operationsbasis des MIT. Juristische Konsequenzen müssen die strafrechtlichen Verantwortlichen von Anschlägen auf kurdische Persönlichkeiten daher nicht fürchten. Die kurdische Bewegung wirft der Barzanî-Partei nicht von ungefähr vor, eine direkte Mitverantwortung für die Attentate zu tragen.

Identitäten von mutmaßlichen Auftragsmördern weiter unklar

Die mutmaßlichen Mörder von Nagihan Akarsel sollen sich derweil noch immer in Haft der Polizei von Silêmanî befinden. Sie waren nach Angaben der Sicherheitsbehörden der Patriotischen Union Kurdistans (YNK) noch am Dienstag in der Nähe von Koyê gefasst worden – an jenem Checkpoint, der die Grenze zwischen den Einflussgebieten der YNK und PDK markiert. Ihre Identität wurde noch immer nicht bekannt gegeben.