„Nagihan Akarsel verkörperte den Geist der Demokratischen Nation“
Deutsche Internationalistinnen haben einen Nachruf auf ihre bei einem gezielten Attentat in Silêmanî ermordete Freundin Nagihan Akarsel verfasst.
Deutsche Internationalistinnen haben einen Nachruf auf ihre bei einem gezielten Attentat in Silêmanî ermordete Freundin Nagihan Akarsel verfasst.
Wenn eine Freundin durch die Gewalt eines brutalen Systems ermordet wird, ist das unbeschreiblich und unaushaltbar. Nahezu jeden Tag ist das der Fall und jedes Mal ist es ein Verlust, der unwiederbringlich ist. Heute ist Nagihan Akarsel in Suleymaniya ermordet worden. Sie wurde auf offener Straße erschossen. Wir kannten sie und wissen aus unserem eigenen Erleben, welch wertvoller Mensch sie war. Zu unterschiedlichen Zeiten haben wir sie kennengelernt und ihr Wirken gesehen. Sie hat als Teil der Jineolojî in Basûr gearbeitet, eine Bibliothek aufgebaut, Seminare gegeben und noch viel weiter darüber hinaus gewirkt.
Wie über eine Freundin schreiben, die heute morgen auf dem Weg zu eben jener Bibliothek gezielt ermordet wurde? Von jenen faschistischen Tätern, die Teil eben dieses Systems sind, das Frauen, die sich für ein selbstbestimmtes und freies Leben einsetzen und organisieren, ermordet. Mörder, die auch Feminizide begehen.
Heute wollen wir aber nicht über die Mörder sprechen, sondern über Nagihan Akarsel. Denn sie ist es, der unser Respekt und unsere Liebe gilt. Sie ist es, die wir nie vergessen werden und deren Kampf wir hier in Deutschland und an vielen weiteren Orten der Welt weitertragen, genauso wie viele Freundinnen das in Kurdistan tun.
Gedenken an Nagihan Akarsel
Nagihan Akarsel war eine Frau, die Teil der kurdischen Frauenbewegung war und immer sein wird. Sie verkörperte den Geist der Demokratischen Nation, indem sie die Ideen und Vorschläge für die Organisierung einer freien Gesellschaft für viele Menschen spürbar und greifbar gemacht hat. Sie tat das durch ihr Sein, durch ihre Annäherung an uns und so viele andere, dadurch wie man sah und spürte, was sie dachte und fühlte - die Gemeinschaft der Menschen der Welt. Sie verkörperte das, wofür wir auch hier jeden Tag mit uns und mit unseren Freund:innen gegen das System, gegen den Staat kämpfen. Sie verkörperte die Freundschaft untereinander.
Die Wärme, die es braucht, um Wunderschönes erwachsen zu lassen. Die Klarheit, die es braucht, um zu sehen, was wir wollen und was wir nicht wollen. Die Entschlossenheit, um daran festzuhalten was Schönes verheißt und Schlechtes verhindern wird. Die Freude, mit der sie auf Menschen zuging, um sich gemeinsam auf den Weg der Befreiung zu begeben. Die Geduld zu wissen, dass die Veränderung der Welt einen langen Atem braucht. Die Offenheit, die ihre Neugier auf die Welt ausdrückte, auf uns, auf Frauen aus aller Welt, auf das, was kommen wird. Es schmerzt unendlich zu wissen, dass diese Neugier die Welt nun nicht weiter entdecken kann.
Was sie besonders auszeichnete, war ihr tiefes Vertrauen in andere Frauen. Sie begegnete uns mit einer Haltung, die aus der tiefen Überzeugung darüber rührte, dass wir unseren Teil an der Revolution, jede für sich und alle gemeinsam, beitragen werden und bereits beitragen, dass jede ihren eigenen Platz im Großen und Ganzen hat. Mit ihr wurde spürbar, dass der Slogan, eine Welt erschaffen zu wollen, in die viele Welten passen, eine reale Grundlage für die Begegnung unter Menschen ist.
Sie gab uns manchmal mehr Vertrauen als wir uns selbst gaben. Auf eine faszinierend leichte, gleichzeitig nicht leichtfertige sondern bedeutungsvolle Art und Weise, stieß sie uns damit auf unsere Verantwortung gegenüber der Welt. Auf eine leise Art merkte man ihre Freude darüber, dass wir an verschiedenen Orten einen gemeinsamen Kampf führen.
Als Teil der Jineolojî, der Wissenschaft der Frau und des Lebens, arbeitete sie in mehreren Teilen Kurdistans mit daran, die Geschichte der Frauen, ihr Wissen und ihren Widerstandsgeist sichtbar und spürbar zu machen, und brachte auch so die kurdische Gesellschaft enger zusammen. Sie hatte die Bedeutung einer revolutionären Wissenschaft verinnerlicht, einer Wissenschaft um und für das Leben, insbesondere auch um das Leben und den Kampf von Frauen. Nagihan setzte viel Wert darauf, das Leben schön und lebenswert zu gestalten, sich die Zeit zu nehmen miteinander Ausflüge zu machen oder einen neuen Menschen zu begrüßen, der gerade auf die Welt gekommen war. Sie wusste um die Bedeutung der vermeintlich kleinen Dinge im Leben und darum, diese wertzuschätzen und sie zu achten. Die Liebe und das tiefe Interesse am Leben in all seinen Facetten war unübersehbar.
Freundinnen wie sie sind es, die mit ihrer Art, ihrem Leben und ihrem ganzen Sein dieses brutale und unmenschliche System angreifen und so zu seiner größten Gefahr werden. Dieses brutale System weiß um die Bedeutung eben dieser Menschen, die eine freie Gesellschaft in sich tragen, die nicht unterzukriegen sind, die kämpfen, die Menschen zusammenbringen und die schon jetzt jeden Tag dabei sind, dieses System zu überwinden und mit ihrer Liebe, Hingabe und Entschlossenheit eine andere Welt erschaffen. Die Herrschenden denken, sie könnten all das durch Waffen vernichten, aber wir kämpfen weiterhin zusammen mit ihr und all den anderen Freund:innen. Wir sehen sie in jedem Schritt unserer Kämpfe und vor allem der Kämpfe der Freundinnen in Kurdistan, der Jineolojî und all den Teilen der Revolution für den Aufbau einer freien Gesellschaft. Wir tragen sie in unseren Herzen.
Die Verbundenheit, die wir zu ihr - und all den anderen ermordeten Freundinnen – spüren, lässt sich nicht durch die Schüsse einer Waffe zerstören. Heute nicht. Morgen nicht. Niemals. Shehîd Namirin! Die Gefallenen weisen uns den Weg, ihre Entschlossenheit und ihr Sein geben uns die Kraft diesen Weg jeden Tag weiterzugehen.