„I have used learning to express anger for growth.“ Audre Lorde hat über die Bedeutung von Wut angesichts rassistischer Angriffe gegen sie als lesbische, Schwarze, Frau geschrieben. Es ist wichtig, Wut einen Ausdruck zu geben, dabei zu wachsen und zu handeln. Auch Trauer braucht einen Ausdruck und wir dürfen sie nicht in uns hinein graben.
Wir sind wütend und traurig über den Mord an Nagihan Akarsel. Sie war Kämpferin im Aufbau des freien Lebens und der kollektiv entwickelten wissenschaftlichen Grundlagen dafür mit der Jineolojî. Für uns war sie wie eine Blume, sie war Kurdin und Freiheitskämpferin.
Gezielt wurde mit ihrer Person eine Vorreiterin der Organisierung der Frauen und der intellektuellen Basis der Bewegung für radikales Freiheitsdenken und Forschung aus Frauenperspektive angegriffen. Nagihan Akarsel war eine Vorkämpferin der Wissenschaft Jineolojî und der Frauenrevolution.
In Zeiten des Umbruchs, der umfassenden globalen Krise, die wir alle spüren und die uns manchmal erdrückt und hoffnungslos werden lässt, sind diejenigen Menschen und vor allem diejenigen Frauen eine Gefahr für das bestehende System, die mit Klarheit und Entschlossenheit am Aufbau des Weges zu einer befreiten Gesellschaftsform arbeiten. Die Frau, die das Leben und fürsorgliche soziale sowie ökologische Beziehungen ins Zentrum rückt, die alle Geschlechter vom Patriarchat befreit, die ohne Staat, ohne Militarismus und ohne Trennungen und Hierarchisierungen zwischen Menschen in ihren Verschiedenheiten oder zwischen Menschen und allen anderen Lebensformen auskommt. Nagihan Akarsel hat für diese Gesellschaftsveränderungen geforscht und Forschungszentren aufgebaut, sie hat Bildungsarbeit gemacht. Sie hat das Jineolojî Journal mit etabliert und war in dessen Redaktion tätig. Sie hat für ihre kritischen Recherchen und Berichte als Journalistin und Frauenkämpferin viele Jahre in türkischen Gefängnissen verbracht. Zuletzt hat sie in Silêmanî, wo sie morgens vor ihrer Haustür ermordet wurde, eine Frauenbibliothek mit Archiv und Forschungszentrum gegründet und die Jineolojî weiter aufgebaut. Sie war auf dem Fußweg zur Frauenbibliothek, als sie gezielt erschossen wurde.
Nagihan Akarsel war – zusammen mit vielen und mit der kurdischen Freiheitsbewegung – auf der Suche nach einer anderen Wissenschaft für ein freies, gerechtes Leben und hat diese mit der Jineolojî in den letzten mehr als zehn Jahren konkret entwickelt und verbreitet. Die tiefgreifende globale Krise – von Militarismus, imperialen Kriegen, des Klimas, von Hunger und Armut, der Einsamkeit, der Zerstörung von Natur und der sozialen Basis von Leben, auch des Hasses auf Frauen und weitere unterdrückte Geschlechter, der Feminizide und von zunehmendem Faschismus – ist mit den unvermeidlichen Umbrüchen auch eine Chance für freiheitliche, demokratische und geschlechterbefreiende Alternativen. Das erfordert, die Kraft dafür mit Wissen und Organisierung sehr stark zu entwickeln, denn die diktatorische, imperialistische Seite ist vorbereitet. Auch die Wissenschaft ist in einer Krise. Die Verwicklungen von Wissenschaft mit Kolonialismus, Männerherrschaft, kapitalistischem Wachstumsdogma, Naturunterwerfung, Militär und Staat sind weitgehend und tief. Das Problem steckt bereits in den Fundamenten für Wahrheitsfindung, in den Epistemologien und Methoden, in den Zerteilungen, Kontroll- und Universalitätsansprüchen, im Denkmodell, das die Welt, die Natur, die Gesellschaft zum Objekt macht. Auf dieser Grundlage können keine guten Lösungen für ein würdiges, gerechtes Leben und den Erhalt des Lebens gefunden werden, trägt die meiste Forschung doch zur Aufrechterhaltung des bestehenden Desasters bei. Deshalb, davon war Nagihan Akarsel überzeugt, braucht es eine Wissenschaft auf neuen Grundlagen. Es braucht einen Paradigmenwechsel und eine Forschung, die mit der demokratischen Gesellschaft gemeinsam das Wissen wieder aufdeckt und erschafft, das Selbstbestimmung als gesellschaftliches Zusammenleben in einer Gemeinschaft der Vielfalt und in ethisch-politischer Selbstverantwortung stärkt und unterstützt. Eine Wissenschaft, die in Beziehungen, in komplexen Verbindungen und auf ethischer Basis Erkenntnisse sucht, statt in Zerteilungen und Objektivierungen - nicht mit Distanz, Kontrolle, lebensfern, entleert und zerstörerisch. Nagihan Akarsel hat Verbindungen auf vielen Ebenen gelebt und war eine Vorreiterin dabei, die Grundlagen für eine Wissenschaft der Beziehungen für eine freie, politisch-moralische, demokratische Gesellschaft zu schaffen.
Das Projekt des Aufbaus einer Wissenschaft aus den Erfahrungen der kurdischen Freiheitsbewegung und vor dem Hintergrund der Geschichte Mesopotamiens, der Wiege der Zivilisation, dieses Projekt Jineolojî, das zentral im Leben von Nagihan Akarsel wurde, hat auch uns in Europa erreicht und inspiriert. Seit einigen Jahren ist der wissenschaftliche Zugang der Jineolojî, deren Methoden, Konzepte, Theorien und Analysen, für viele Linke, Demokrat:innen, Internationalist:innen und Feminist:innen in Europa und in anderen Teilen der Welt ein wichtiger Bezugspunkt oder auch Grundlage der eigenen Arbeitsweise geworden, auch für die feministische Organisierung Gemeinsam Kämpfen. Auf einer großen internationalen Konferenz 2014 und auf vielen Veranstaltungen seither wurde die Jineolojî in Europa bekannt gemacht und diskutiert. Seit 2017 haben zahlreiche mehrtägige Bildungscamps mit insgesamt vielen hundert Teilnehmer:innen in verschiedenen Ländern und Regionen Europas stattgefunden, davon bisher fünf in Deutschland, weitere stehen bevor. Es wurden zwei Fachtagungen „Gender Studies meets Jineolojî“ mit jeweils rund 100 Teilnehmer:innen durchgeführt, die nächste folgt 2023. In vielen anderen Bildungsangeboten wird die Jineolojî integriert, auch an deutschen Universitäten. Die Hochschule Emden/Leer pflegt seit mehr als vier Jahren eine Hochschulpartnerschaft mit dem Fachbereich Jineolojî der Universität Rojava im selbstverwalteten Gebiet Nord- und Ostsyrien, die Universität Bremen hat die Jineolojî zum Bestandteil einer transnationalen Sommeruniversität gemacht, andere Universitäten hatten Gastvorträge aus der Jineolojî. Einige, die sich heute in Europa auf die Jineolojî beziehen, mit Jineolojî arbeiten und diese weitertragen, haben diese auch im direkten Kontakt mit Nagihan Akarsel kennengelernt, unter anderem an der Jineolojî-Akademie in Nord- und Ostsyrien, beim Zusammentreffen mit der internationalen Friedensdelegation nach Başûr (Südkurdistan) im Juni 2021 oder im Zusammenhang mit dem Aufbau der Frauenbibliothek in Silêmanî.
Der Mord an Nagihan Akarsel setzt die Reihe der Morde auf Pionierinnen der Frauenbefreiung aus der kurdischen Bewegung und anderen Bewegungen weltweit fort. Die Gemeinschaft der Frauen Kurdistans (KJK) erklärte dazu: „Dies zeigt, dass wir einem globalen Gegenangriff der kapitalistischen Frauenfeindlichkeit ausgesetzt sind, die zu verhindern versucht, dass unser Jahrhundert zu einer Ära der Frauenbefreiung wird.“ (4.10.2022) Gegen diese Femizide an Aktivistinnen der Frauenrevolution wie gegen alle Femizide und Praktiken der Frauenfeindlichkeit und des anti-feministischen Bestrebens zur Aufrechterhaltung dominanter männlicher Macht müssen wir unsere Wut, unsere Solidarität und eine starke Organisierung für die Frauenrevolution setzen. Anlässlich des Femizids an Jina Mahsa Amini im Iran schreibt das Kurdische Frauenbüro für Frieden Cenî: „Wenn heute [der Ruf] ‚Jin Jiyan Azadî‘ die Straßen zittern lässt und sich Frauen überall auf der Welt in Solidarität auf den Straßen versammeln, ist das ein weiterer gemeinsamer Schritt der Revolution. Indem wir den Schmerz und die Wut von bloßen Emotionen in eine uns vorantreibende revolutionäre Kraft umwandeln, sorgen wir dafür, dass diese Aufstände immer weiter leben.“ (29.9.2022) Mit dem tödlichen Angriff auf die Frauenrechtlerin Nagihan Akarsel in Silêmanî werden auch all diejenigen angegriffen, die seit Wochen weltweit mit dem Slogan ‚Jin-Jiyan-Azadî‘ auf den Straßen sind. Dieser Slogan kommt aus der kurdischen Frauenbewegung und drückt das Frauenfreiheitsdenken aus, das Nagihan Akarsel mitgeprägt und in lebendige Praxis umgesetzt hat. Der Aufruhr, der seit dem Femizid an Jina Mahsa Amini nicht abreißt, wird nun verstärkt durch die Proteste gegen den Femizid an Nagihan Akarsel.
In Südkurdistan, wo Nagihan Akarsel ermordet wurde, führt das türkische Militär und der türkische Geheimdienst im Interesse der NATO einen imperialistischen Vernichtungskrieg gegen Kurd:innen und deren Hoffnungsträgerin auf Befreiung, die Guerilla der PKK. In den Bergen wird völkerrechtlich verbotenes, tödliches Giftgas massenhaft gegen Guerillastellungen eingesetzt. Wälder werden vernichtet und Menschen aus ihren Dörfern vertrieben. Gezielte Drohnenmorde werden gegen Führungskräfte der kurdischen Bewegung ausgeführt. Bombardierungen richten sich gegen Orte der Selbstorganisierung wie die Ezid:innen in Şengal und das Flüchtlingslager Mexmûr. In der Stadt Silêmanî ist der Mord an Nagihan Akarsel der fünfte Mord an kurdischen Aktivist:innen in nur einem Jahr. Zuletzt war Ende August ein Historiker, der mit der kurdischen Basisbewegung Tevgera Azadî gearbeitet hat, ebenfalls vor seiner Haustüre erschossen worden. Hinter allen diesen Morden wird der türkische Geheimdienst MIT vermutet. Dass dieser im Gebiet der Kurdischen Regionalregierung auf nordirakischem Staatsgebiet so ungehindert überwachen, ausforschen und straflos morden kann, dass dort mindestens 60 türkische Militärstützpunkte bestehen und fortlaufend Bombardierungen, Drohnenmorde und Giftgasangriffe stattfinden können, wird durch die Kooperation der durch die PDK dominierte und faktisch von der Barzanî-Familie kontrollierte Regionalregierung (KRG) ermöglicht, aber auch durch die USA, ohne deren Zustimmung im Nordirak nichts geschehen kann. Die PDK stellt sich an die Seite der kurdenfeindlichen, anti-demokratischen, frauenfeindlichen und imperialistischen Politik des türkischen Staates und stärkt dessen Krieg durch unterstützende militärische Maßnahmen wie Aufklärung, Straßenbau, aber auch Hinterhalte. Morde wie in Silêmanî sind möglich, weil der MIT überall frei agieren kann. Auch die zweite KRG-Regierungspartei YNK, die Silêmanî regiert, setzt dem offensichtlich nichts mehr entgegen. Nach dem Femizid an Nagihan Akarsel erklärte der KNK, dass neben der YNK auch die Irakische Zentralregierung, die NATO, die EU und der Europarat aufgerufen sind, die außergerichtlichen Hinrichtungen der Türkei, mit der eine Partnerschaft geführt wird, zu stoppen. Eine „feministische Außenpolitik“ wie sie u.a. die grüne Außenministerin Annalena Baerbock für sich beansprucht, wird angesichts einer solchen Partnerschaft mit diesem Staat, der aus der Istanbul-Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen aussteigt, der Frauenmörder im eigenen Land mit Straffreiheit motiviert und der höchst wahrscheinlich für die geheimdienstliche Hinrichtung von Nagihan Akarsel verantwortlich ist, mehr als eine Farce.
Lasst uns den Aufstand mit dem Ruf „Jin-Jiyan-Azadî“ nicht mehr verstummen und zur Ruhe kommen lassen. Machen wir die Jineolojî und die Frauenbefreiung zur Grundlage unserer Forschungen, unseres Denkens, unserer Praxis, der zukünftigen Gesellschaft und Welt des demokratischen Konföderalismus. Nagihan Akarsel lebt weiter in uns. Şehîd namirin!