Türkei: Keine Corona-Gnade für Libyen-Berichterstatter

Die sechs Journalisten, die unter dem Vorwurf verhaftet wurden, die Identitäten von in Libyen getöteten Agenten des türkischen Geheimdienstes enthüllt zu haben, bleiben im Gefängnis. Die Haftentlassungsanträge ihrer Verteidiger wurden abgelehnt.

Die wegen ihrer Libyen-Berichterstattung in der Türkei verhafteten Journalist*innen bleiben im Gefängnis. Vom Rechtsbeistand der Betroffenen gestellte Anträge auf Haftentlassung wegen Ansteckungsgefahr mit dem Coronavirus wurden am Donnerstag von der 4. Strafabteilung des Amtsgerichts Istanbul abgelehnt.

Der Chefredakteur Mehmet Ferhat Çelik und der Herausgeber Aydın Keser der pro-kurdischen Zeitung Yeni Yaşam, der Kolumnist der Zeitung Yeniçağ, Murat Ağırel, und der Chefredakteur des Online-Nachrichtenportals Oda TV Barış Pehlivan sowie dessen Redakteur*innen Barış Terkoğlu und Hülya Kılınç wurden Ende Februar bzw. Anfang März verhaftet. Ihnen wird vorgeworfen, Staatsgeheimnisse offengelegt zu haben. Konkret ging es um Berichte über die Beerdigung von Mitarbeitern des türkischen Geheimdienst MIT, die in Libyen getötet wurden, deren Tod aber bereits zuvor öffentlich thematisiert worden war – unter anderem nach einer entsprechenden Erklärung des türkischen Verteidigungsministeriums bei einer Pressekonferenz des IYI-Partei-Abgeordneten Ümit Özdağ im türkischen Parlament. Die Journalisten von Yeni Yaşam hatten sogar lediglich von Soldaten berichtet, die in Libyen ums Leben gekommen seien. Von MIT-Angehörigen war in ihrer Berichterstattung gar nicht die Rede.

Die Anwälte der sechs Journalist*innen machten in ihren Haftentlassungsanträgen geltend, dass ihre Mandanten unter die sogenannte „Corona-Amnestie” fallen. Doch auch der Tatbestand des Geheimnisverrats, gegen den die Betroffenen angeblich verstoßen haben, macht wie im Fall der Andersdenkenden, die wegen ihrer politischen Haltung im Gefängnis sitzen und explizit nicht von der Amnestie profitieren, eine Haftentlassung unmöglich. Denn dem Anfang der Woche im Parlament eingebrachten Gesetzentwurf zur Freilassung von rund einem Drittel der Strafgefangenen wurde kurz vor der Abstimmung noch ein spezieller Artikel hinzugefügt, der „Verbrechen gegen den Nationalen Geheimdienst” regelt und genau die Journalist*innen betrifft, die wegen ihrer Libyen-Berichterstattung verhaftet wurden. So urteilten die Richter am Amtsgericht in Istanbul, dass die Coronavirus-Pandemie im Fall der sechs Journalist*innen eine Entlassung nicht erforderlich erscheinen lasse und die Untersuchungshaft damit aufrechterhalten bleibt.

HDP: „Paket für organisierte Verbrecher, Banden und Mafia“

Als offiziellen Grund für die Strafvollzugsreform, durch die bis zu 95.000 Straf- und Untersuchungsgefangene freikommen oder unter Hausarrest gestellt werden, nennt die Regierungskoalition aus AKP und MHP eine Entlastung der Gefängnisse in der Coronavirus-Krise. Die Überbelegung in den Haftanstalten befindet sich derzeit auf einem in der Geschichte der Türkei nie dagewesenen Niveau. Nach Angaben des Justizministerium saßen mit Stand vom Januar 294.000 Menschen in den insgesamt 355 Haftanstalten. Etwa 11.000 davon sind Frauen, 3100 sind Jugendliche. 780 Kinder im Alter unter sechs Jahren sind mit ihren Müttern im Gefängnis. Letztere sollen wie kranke Gefangene und Inhaftierte über 65 Jahren freigelassen werden. Doch Inhaftierte bei einer Epidemie freizulassen, wäre auch mit dem bisherigen Vollzugsgesetz möglich gewesen. Daher glaubt die Demokratische Partei der Völker (HDP) nicht daran, dass es der Regierung darum gehe, die Gefahr der Ansteckung mit dem Coronavirus in den Gefängnissen zu reduzieren, sondern eher darum, die eigene Anhängerschaft zu amnestieren, während Oppositionelle dem Corona-Tod in den Gefängnissen überlassen werden.

Amnestie durch Corona nur beschleunigt

Tatsächlich hatten die Regierungspartei von Recep Tayyip Erdogan und der ultranationalistische Bündnispartner MHP die Reform des Strafvollzugs lange vor dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie geplant. Durch das weltweit grassierende Coronavirus wurde die Umsetzung jetzt nur beschleunigt.

Vor allem die MHP drängte seit Jahren auf eine Amnestie – besonders für Verurteilte aus dem Bereich der organisierten Kriminalität. Der Parteivorsitzende Devlet Bahçeli setzte sich immer wieder für die Freilassung von Straftätern wie dem Mafiaboss Alaattin Çakıcı ein, der wegen Auftragsmorden zu 19 Jahren Haft verurteilt wurde. Das hinderte ihn aber nicht daran, aus dem Gefängnis heraus Journalist*innen, die sich gegen seine Amnestie einsetzten, und oppositionellen Politiker*innen wie den früheren HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Sezai Temelli zu drohen, sie erschießen zu lassen.

Bahçeli hatte Çakıcı sogar vor den Parlamentswahlen im Juni 2018 in einer Klinik besucht, wo sich der damals 65-Jährige befand. Mittlerweile ist der Mafiaboss auf freiem Fuß. In einem schwarzen Mercedes-Vito wurde Çakıcı am Mittwochabend vom Hochsicherheitsgefängnis Sincan bei Ankara abgeholt und in ein Hotel eines Freundes in Çanakkale gefahren, meldeten regierungsnahe Medien. Andersdenkende sind in der Türkei nun mal gefährlicher als Mafiabosse.