Nach mehr als 300 Tagen Untersuchungshaft hat ein türkisches Gericht auf Antrag der Verteidigung die Freilassung einer kurdischen Journalistin angeordnet. Bei ihr handelt es sich um Dicle Müftüoğlu, Redakteurin der Nachrichtenagentur Mezopotamya (MA) und Ko-Vorsitzende des Journalistenvereins Dicle Firat (DFG). Gegen die 39-Jährige verfügte das Gericht in Amed (tr. Diyarbakır) allerdings eine Ausreisesperre.
Müftüoğlu war im vergangenen Jahr am 3. Mai, dem internationalen Tag der Pressefreiheit, wegen des Verdachts der Gründung und Leitung einer Terrororganisation sowie angeblicher Mitgliedschaft in Ankara verhaftet worden, nachdem sie auf Betreiben der Staatsanwaltschaft Diyarbakır mehrere Tage in Polizeigewahrsam war. Seitdem befand sie sich im Frauengefängnis Sincan nahe Ankara in Untersuchungshaft. Medieneinrichtungen und Gewerkschaften hingegen gehen davon aus, dass die Anschuldigungen gegen die Journalistin im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit für die freie kurdische Presse stehen – auch deshalb, weil sie im Zuge einer Festnahmewelle kurz vor der Parlaments- und Präsidentschaftswahl inhaftiert worden war.
Die Anklage stützt sich bei ihren Vorwürfen gegen Müftüoğlu hauptsächlich auf Aussagen von Belastungszeugen, auf die auch in anderen Prozessen gegen kurdische Presseleute oder auch in dem als Kobanê-Verfahren bekannten politischen Schauprozess gegen die HDP zurückgegriffen wird. Einer von ihnen ist der „anonyme Zeuge „K8Ç4B3L1T5“, der in einem anderen Verfahren gegen kurdische Medienschaffende angegeben hatte, als staatlicher Agent bei der Nachrichtenagentur Mezopotamya tätig gewesen zu sein. Für ihren politischen Vernichtungsfeldzug gegen die kurdische Opposition unterhält die türkische Justiz schon länger einen Kronzeugenpool, aus dem sie sich nach Bedarf bedient.
Bei der heutigen Verhandlung an der 5. Großen Kammer für schwere Straftaten Diyarbakır, in die Müftüoğlu über ein Videokonferenzsystem aus dem Gefängnis eingebunden wurde, trat ein weiterer anonymisierter Zeuge auf. Er gab an, die Angeklagte hätte „von weiblichen Pressevertreterinnen Artikel über wichtige Tage der Organisation“ – gemeint ist wohl die Arbeiterpartei Kurdistans PKK – gefordert und sich an Treffen von Frauenorganisationen beteiligt, die eine „Nähe zu terroristischen Vereinigungen“ aufwiesen. Daher gehe er davon aus, Müftüoğlu sei „ranghohes Mitglied der Organisation“, ganz sicher sei er sich aber nicht. Fragen, die von der Verteidigung der Journalistin an ihn gestellt wurden – etwa zum Ort der vorgegebenen Treffen Müftüoğlus mit Frauenorganisationen oder Anweisungen, die sie angeblich „zugunsten der Organisation“ erteilt hätte, beantwortete der Zeuge mit „Ich kann mich nicht erinnern“.
Verteidigung zweifelt Glaubwürdigkeit des Zeugen an
Resul Temur, einer der Verteidiger von Müftüoğlu, zweifelte die Glaubwürdigkeit des Belastungszeugen an. Seine Aussagen seien motiviert von dem Wunsch, seine Mandantin bestrafen zu wollen. „Der geheime Zeuge geht über die Rolle des Zeugen hinaus und tritt an die Stelle der Staatsanwaltschaft. Er erhebt eine Anschuldigung, die darauf abzielt, kurdische Medienschaffende kollektiv zu bestrafen“, sagte Temur. Rechtsanwalt Veysel Ok vom Verein für Medien und Recht (MLSA) ergänzte, dass vor Gericht eine gezielte Kriminalisierung des Journalismus stattfinde.
Free Press Unlimited: Prozess ein Lehrbuchbeispiel für schwere juristische Schikane
Auch Müftüoğlu selbst sprach von einer Kriminalisierung des Berufs der Journalistinnen und Journalisten. „Die Anklage beruht nicht auf irgendwelchen handfesten Beweisen, sondern besteht aus wahrheitswidrigen Behauptungen und Verleumdungen“, sagte sie. Zahlreiche Prozessbeobachter:innen verfolgten ihre Schilderungen aus den Zuschauerreihen, darunter Kolleg:innen und Vertreter:innen verschiedener NGOs. Anwesend waren auch Mitglieder der „Internationalen Delegation gegen Isolation“ und „Free Press Unlimited“. Die Organisation, die sich weltweit für die Pressefreiheit einsetzt und Müftüoğlu 2023 mit dem „Most Resilient Journalist Award“ ausgezeichnet hatte, erklärte, der Prozess gegen die Journalistin tauge als „Lehrbuchbeispiel für schwere juristische Schikane“ die angewendet werde, um der Regierung gegenüber kritische Medienschaffende zum Schweigen zu bringen. Zusammen mit 19 weiteren Organisationen wie PEN International, dem Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ) und der Europäischen Journalisten-Föderation (EFJ) gab Free Press Unlimited zudem einen Appell raus, in dem die Freilassung Müftüoğlus gefordert wurde.
Anklage fordert bis zu 15 Jahre Gefängnis
Die Staatsanwaltschaft plädiert für ein Strafmaß im oberen Bereich und fordert eine Verurteilung nach Artikel 314/1 des türkischen Strafgesetzbuches. Damit droht Müftüoğlu eine Freiheitsstrafe zwischen siebeneinhalb und fünfzehn Jahren, sollte es zu einer Verurteilung kommen. Der Prozess soll am 13. Juni fortgesetzt werden.