Die Journalistin Dicle Müftüoğlu muss vorerst in Untersuchungshaft bleiben. Ein türkisches Strafgericht in Amed (tr. Diyarbakır) lehnte beim Prozessauftakt am Donnerstag einen Antrag ihres Verteidigungsteams auf Aufhebung des Haftbefehls und die Freilassung der wegen angeblichen Terrorverdachts angeklagten Kurdin ab. Die Begründung: Es bestehe Fluchtgefahr.
Dicle Müftüoğlu, die als Redakteurin für die Nachrichtenagentur Mezopotamya (MA) arbeitet und Ko-Vorsitzende des Journalistenvereins Dicle-Firat (DFG) ist, befindet sich seit Mai wegen des Verdachts der Gründung und Leitung einer Terrororganisation sowie angeblicher Mitgliedschaft in dieser im Frauengefängnis Sincan bei Ankara in Untersuchungshaft. Ihre Verteidigung, die aus Resul Temur, Veysel Ok und Emine Özarslan besteht, geht davon aus, dass die Anschuldigungen gegen die Journalistin im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit für die freie kurdische Presse stehen – auch deshalb, weil sie im Zuge einer Festnahmewelle nur kurz vor der Parlaments- und Präsidentschaftswahl inhaftiert worden war. Das nimmt auch Müftüoğlu selbst an.
Keine Anklageschrift, sondern Sammlung absurder Indizien
„Im Wesentlichen geht es darum, freien Journalismus als Berufsfeld zu kriminalisieren“, sagte die Journalistin zu ihrer Verteidigung und wies alle gegen sie erhobenen Anschuldigungen entschieden zurück. „Ob nun die Anklage gegen mich oder die gegen meine über sechzig derzeit in diesem Land inhaftierten Kolleginnen und Kollegen – keine davon hat mit den tatsächlichen Gründen unserer Inhaftierung zu tun.“ Bei solchen Prozessen gehe es nie wirklich um „terroristische“ Aktivitäten, sondern um regierungskritischen und investigativen Journalismus. Das von der Staatsanwaltschaft vorgelegte Klagepapier bezeichnete Müftüoğlu als eine im Copy-Paste-Verfahren zusammengebastelte Sammlung absurder Indizien. „Damit will man uns mundtot machen.“
Willkürliche Einstufung von MA und DFG als „illegale Einrichtungen“
Ähnlich äußerte sich auch Rechtsanwalt Temur. Er monierte, dass die Staatsanwaltschaft versuche, durch eine willkürliche Einstufung von MA und dem DFG als „illegale Einrichtungen“ die gesamte Tätigkeit von Müftüoğlu als Medienschaffende zu kriminalisieren. Dabei stütze sich die Behörde hauptsächlich auf Aussagen von Belastungszeugen, auf den auch in anderen Prozessen gegen kurdische Presseleute oder auch in dem als Kobanê-Verfahren bekannten politischen Schauprozess gegen die HDP zurückgegriffen werde. Einer dieser Informanten sei der „anonyme Zeuge „K8Ç4B3L1T5“, der in einem anderen Verfahren gegen kurdische Medienschaffende angegeben hatte, als staatlicher Agent bei der Nachrichtenagentur Mezopotamya tätig gewesen zu sein.
Verteidigung widerlegt Aussagen von Belastungszeuge
Der zweite Informant im Fall Müftüoğlu soll Kerem Gökalp sein. Laut Verteidiger Resul Temur sei der Mann früher Mitglied der PKK gewesen und 2019 zu der in Südkurdistan herrschenden Barzanî-Partei PDK übergelaufen. Im November desselben Jahres habe die PDK ihn an die Türkei übergeben – unmittelbar danach startete seine „Karriere“ als Belastungszeuge, so Temur. „Diese Person hat vom türkischen Reuegesetz Gebrauch gemacht, um einer langjährigen Haftstrafe zu entgehen, und im Rahmen eines Deals mit den türkischen Behörden zahlreiche Personen belastet. Seine Angaben stimmen hinten und vorne nicht – in keinem Prozess, in dem er als Zeuge auftaucht. Gegen Dicle Müftüoğlu sagte er unseren Informationen zufolge überhaupt nicht aus. Dennoch behauptet die Anklage, das Verfahren gegen unsere Mandantin aufgrund seiner Aussagen eröffnet zu haben. Angeblich will er ihr im Jahr 2012 ‚in den Bergen‘ begegnet sein. Wir haben diese Behauptung widerlegt und nachgewiesen, dass sie zum damaligen Zeitpunkt nicht ausgereist ist. Dicle Müftüoğlu war aufgrund eines schweren Unfalls in jenem Jahr körperlich nicht in der Lage, sich selbst zu versorgen, geschweige denn auf Reisen zu gehen.“
Anklage fordert bis zu 15 Jahre Gefängnis
Als weitere Indizien für die Annahme, Müftüoğlu sei „Terroristin“, nennt die Staatsanwaltschaft Diyarbakır eine Auswertung ihrer Handydaten von 2013 bis 2020, die ergeben hätte, dass sie in Städten wie Wan, Amed, Şirnex und Adana „zu bestimmten Zeiträumen zeitgleich mit Terrorverdächtigen in einem Gebiet“ im Netz eingeloggt gewesen sei. Außerdem werden Geldzahlungen von Familienmitgliedern an sie zur finanziellen Unterstützung ihres Studiums als „Terrorfinanzierung“ sowie Aufenthalte in Hotels aus beruflichen Gründen – etwa für die journalistische Begleitung einer Konferenz 2016 in Agirî (Ağrı) über den Dersim-Genozid in den Jahren 1937/1938 – als „Teilnahme an einer Versammlung der Terrororganisation“ ausgelegt. Daraus und unter anderem aufgrund einer Reise, die Müftüoğlu 2017 in die Kurdistan-Region des Irak zur Beobachtung des damaligen Unabhängigkeitsreferendums unternahm, lasse sich schließen, dass sie keine Journalistin sei, sondern „auf terroristische Anweisungen hin“ handele. Die Staatsanwaltschaft plädiert für ein Strafmaß im oberen Bereich und fordert eine Verurteilung nach Artikel 314/1 des türkischen Strafgesetzbuches. Damit droht Müftüoğlu eine Freiheitsstrafe zwischen siebeneinhalb und fünfzehn Jahren, sollte es zu einer Verurteilung kommen. Der Prozess wird am 18. Januar 2024 fortgesetzt.
Nicht zum ersten Mal im Visier der türkischen Justiz
Dicle Müftüoğlu befindet sich schon länger im Fokus der türkischen Verfolgungsbehörden. Ende 2020 wurde sie wegen eines 2014 von ihr im Internet geteilten Fotos vom Kampf gegen die Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS) im nordsyrischen Kobanê zu einem Jahr und drei Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Damals war sie Chefredakteurin der im Herbst 2016 nach dem angeblichen Putschversuch in der Türkei per Notstandsdekret verbotenen Nachrichtenagentur DIHA. Das Gericht warf ihr „Propaganda für eine Terrororganisation“ vor. Wenige Wochen später wurde ein neues Ermittlungsverfahren gegen sie eingeleitet, ebenfalls wegen vermeintlicher Terrorpropaganda im Netz. Im Juni 2022 wurde die Journalistin erneut verhaftet.