Vor knapp einem Jahr wurde der kurdische Journalist Ahmet Kanbal im westtürkischen Aydin zu einer 15-monatigen Haftstrafe verurteilt. Der Korrespondent der Nachrichtenagentur Mezopotamya (MA) war wegen der „Benennung von Akteuren im Kampf gegen den Terror” und Beamtenbeleidigung schuldig gesprochen worden. Das Verfahren ging auf die Anzeige eines berüchtigten Kommandeurs der türkischen Gendarmerie zurück. Dieser hatte sich an einem Beitrag des Journalisten auf Twitter echauffiert, in dem es um seine Vergangenheit als Vergewaltiger im Dienste des Staates ging.
Musa Çitil - der Name dieses Generalleutnants der türkischen Streitkräfte hat sich spätestens in den frühen 1990er Jahren durch Massaker, Folterungen und Vergewaltigungen in das kollektive Gedächtnis der kurdischen Gesellschaft eingebrannt. Mehrfach wurde ihm vorgeworfen, Kurdinnen und Kurden, die er in Untersuchungshaft nahm, sexuell missbraucht, gefoltert oder getötet zu haben. Die türkische Justiz sprach ihn jedes Mal frei - und der Staat beförderte ihn. Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) dagegen wurde Ankara sowohl wegen den Vergewaltigungsfällen Çitils als auch anderen Verbrechen an Kurdinnen und Kurden mehrmals verurteilt.
Als mit dem Suizid der 18-jährigen Kurdin Ipek Er aus Êlih (Batman) im Sommer 2020 mit Musa Orhan der Name eines anderen Vergewaltigers in den Reihen der türkischen Armee in die Öffentlichkeit gelangte, war die Empörung groß. Auch deshalb, weil der Gendarmerie-Unteroffizier nach Bekanntwerden der Tat von der türkischen Justiz geschützt wurde und sich - bis heute - auf freiem Fuß befindet. Und das, obwohl er in der Zwischenzeit zu einer Haftstrafe verurteilt worden ist.
Die renommierte Menschenrechtsanwältin Eren Keskin hatte mit Blick auf den staatlichen Umgang mit Musa Orhan Parallelen zur Straffreiheit für Musa Çitil gezogen. „Jahre zuvor gab es vor Musa Orhan einen anderen Musa, nämlich Musa Çitil. In den 90ern war er Kommandant in Mardin. Wegen der Vergewaltigung an Ş.E. wurde er zwar angeklagt, aber freigesprochen. Jahre später tauchte er in Diyarbakir als Kommandant von Sur auf“, sagte Keskin in einem Interview. Wegen dieser Äußerung hatte Çitil sowohl die Menschenrechtlerin als auch die Journalistin, die das Interview führte, verklagt. Auch Ahmet Kanbal wurde von dem Kommandeur angezeigt. Er hatte Keskins Worte zitiert und auf den derzeitigen Innenminister als heutige Analogie hinsichtlich der staatlichen Schutzfunktion für Täter verwiesen.
Im Berufungsverfahren ist es nun zu einer überraschenden Wende gekommen. Ein regionales Berufungsgericht Izmir hat das Urteil gegen Kanbal aufgehoben und den Journalisten freigesprochen. Bei seiner Äußerung habe es sich weder um eine direkte Beleidigung einer Person gehandelt, noch könne man sie als Verstoß gegen Paragraf 6/1 des türkischen Antiterrorgesetzes werten, der das „Verbot der Enthüllung der Identität von Personen“ regelt, „die mit der Terrorbekämpfung befasst sind und so zur Zielscheibe von Gewalttaten werden könnten“, zitiert Kanbals Verteidiger Erdal Kuzu aus dem Urteil. „Vielmehr handelt es sich um eine Kritik an der Tatsache, dass es bei Straftaten, die durch Militärangehörige und Sicherheitskräfte verübt worden sind - wie etwa die mutmaßliche Vergewaltigung durch Musa Orhan - bewusst keine oder ausreichende Ermittlungs- und Strafverfolgung gibt.“ Demzufolge sei die Verurteilung Kanbals fehlerhaft gewesen, er müsse freigesprochen werden.
Verantwortlich für Hinrichtung von Zivilisten
Musa Çitil war zwischen 1984 und 2000 als Regionalkommandant der Gendarmerie fast durchgehend in Kurdistan stationiert, unter anderem in Wan, Amed und Dersim. In Dêrika Çiyayê Mazî bei Mêrdîn (tr. Mardin) hatte Çitil in den Jahren 1993 und 1994 die Hinrichtung von 13 Zivilist:innen zu verantworten. Ebenfalls 1993 vergewaltigte er die damals 16-jährige Şükran Aydın, die am 29. Juni nach einem Überfall auf ihr Dorf festgenommen wurde. Im November desselben Jahres wurde in Dêrika Çiyayê Mazî die damals 21-jährige Şükran Esen in Untersuchungshaft genommen. Nach ihrer Freilassung ging sie ins Ausland und erzählte jahrelang nichts von ihrem Erlebten. Als sie ihr Schweigen nicht mehr ertragen konnte, suchte sie bei der Rechtsanwältin Eren Keskin Hilfe und berichtete von mehreren Vergewaltigungen in Untersuchungshaft. Keskin strengte daraufhin gegen 405 Soldaten einen Prozess wegen Vergewaltigung an. In beiden Verfahren wurde Musa Çitil von der türkischen Justiz freigesprochen. Der EGMR dagegen hatte Ankara sowohl wegen der Vergewaltigungsfälle Çitils als auch anderen Verbrechen an Kurdinnen und Kurden mehrmals verurteilt.