Am 16. Juli 2020 versuchte sich die 18-jährige Kurdin Ipek Er aus Êlih (tr. Batman) mit einer Schrotflinte das Leben zu nehmen. Sie erlag wenige Tage im Krankenhaus ihren Verletzungen. In einem Abschiedsbrief berichtete sie von der Vergewaltigung durch den Unteroffizier Musa Orhan, von dem sie über mehrere Tage gefangen gehalten, unter Drogen gesetzt und sexuell missbraucht worden war. Die Justiz ließ den Mann daraufhin kurzzeitig festnehmen, doch wegen fehlender Fluchtgefahr kam er schnell wieder frei. Orhan befindet sich auch heute auf freiem Fuß, wenn auch eine kurzzeitige Festnahme durch massive Frauenproteste erwirkt werden konnte.
Protestierende Frauen werden mit Repression überzogen
Doch die protestierenden Frauen wurden vom türkischen Staat mit Repression überzogen. Wegen Protesten gegen die Freilassung des Vergewaltigers eröffnete die Oberstaatsanwaltschaft von Batman ein Verfahren gegen 19 Frauen unter dem Vorwurf „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“, gemeint ist die PKK.
Im Rahmen der Ermittlungen wurden zwischen dem 31. Mai und dem 1. Juni Hausdurchsuchungen bei den Frauen durchgeführt. Während 14 von 18 bei diesen Razzien festgenommenen Frauen unter Meldeauflagen wieder freigelassen wurden, wurden die Ko-Vorsitzende des HDP-Provinzverbands von Êlih, Fatma Ablay, Şirvan Göçer, Leyla Bayram (TJA) und Hacire Tanırğan verhaftet. Obwohl bereits sechs Monate vergangen sind, wurde noch immer keine Anklageschrift verfasst.
„Es gibt keinen einzigen konkreten Beweis für eine Mitgliedschaft“
Yunus Bağış, einer der Anwält:innen in dem Fall, sagte, es sei äußerst ungewöhnlich, dass die Frauen in Haft bleiben, obwohl binnen sechs Monaten keine Anklageschrift erstellt wurde. Bağış wies darauf hin, dass es keinen einzigen konkreten Beweis für die Anschuldigungen gegen die Frauen gebe. Die Anschuldigungen beruhten auf der Aussage einer geheimen Zeugin, und es werde ihnen vor allem die Teilnahme am internationalen Frauentag, am Tag gegen Gewalt an Frauen und an den Protesten aufgrund des Verbrechens an Ipek Er zur Last gelegt.
„Seit sechs Monaten andauernder Rechtsbruch“
Bağış betonte, dass die Frauen seit sechs Monaten in Haft sind. Obwohl der Kassationsgerichtshof entschieden habe, dass „eine Verhaftungsentscheidung nicht auf geheimen Zeugenaussagen beruhen kann“, wurde ein solcher Haftbefehl ausgestellt: „Es handelt sich um eine völlig unrechtmäßige Entscheidung. Trotz unserer Anträge wurde seit sechs Monaten keine Anklageschrift verfasst. Vier der Frauen befinden derzeit in Haft. Jeden Monat wird auch unser Antrag auf Entlassung abgelehnt. Drei der Frauen wurden in weit entfernte Gefängnisse verlegt. Unsere Mandantinnen wurden ohne jeden Beweis für schuldig erklärt. Der Rechtsbruch begann mit ihrer Verhaftung und dauert weiter an. Dass sie festgehalten werden, obwohl es in der Akte keinen einzigen konkreten Beweis gibt, ist es eine absolute Rechtsbeugung. Sie müssen so schnell wie möglich freigelassen werden.