Der Ex-Unteroffizier Musa Orhan ist wegen Vergewaltigung zu zehn Jahren Haft verurteilt worden. Die 1. Strafkammer Siirt sah es als erwiesen an, dass der 25-Jährige die Kurdin Ipek Er im vergangenen Jahr mehrfach vergewaltigte. Orhan musste zur Verkündung des Strafmaßes nicht persönlich vor Gericht erscheinen, sondern wurde über ein Videoliveschaltungssystem in die Verhandlung eingebunden. Er bestritt, eine Straftat begangen zu haben.
Die Staatsanwaltschaft hatte im Vorfeld noch einmal ausdrücklich eine Verurteilung nach Artikel 102/2 des türkischen Strafgesetzbuches (TCK) gefordert, der eine Mindeststrafe von zwölf Jahren Gefängnis vorsieht. Dieser Forderung kam das Kollegialgericht zwar nach, reduzierte das Strafmaß dann aber doch um zwei Jahre. Als Grund hierfür wurde angegeben, dass eine höhere Haftstrafe sich „negativ auf die Zukunft des Täters auswirken könnte“. Als strafmildernd sei zudem die Teilnahme des Angeklagten an allen Verhandlungen berücksichtigt worden, erklärte Rechtsanwältin Gulan Çağın Kaleli.
Die gesamte Verhandlung über leistete sich das Gericht einen Skandal nach dem nächsten. Zunächst erteilte der vorsitzende Richter ein Verbot für die Nutzung von Handys im Gerichtssaal und verwies dabei auf vermeintliche Sicherheitsgründe. Medienschaffenden sowie Aktivistinnen der kurdischen Frauenbewegung TJA und des Frauenrats der HPD wurde der Zutritt zur Verhandlung verwehrt. Anträge der Istanbuler Plattform „Wir werden Frauenmorde stoppen“ (KCDP) und des Frauenrechtsbüros der Anwaltskammer Ankara über die Zulassung zur Nebenklage wurden einstimmig mit Verweis auf eine „fehlende unmittelbare Betroffenheit“ abgewiesen. Dem Juristen Nahit Eren, der zugleich Vorsitzender der Rechtsanwaltskammer Amed (tr. Diyarbakir) ist und zu den Verteidiger:innen der Nebenklage gehört, verweigerte das Gericht die Prozessteilnahme. Dem Antrag von Staatsanwaltschaft und Nebenklage, einen Haftbefehl gegen Musa Orhan zu erteilen, kamen die Richter ebenfalls nicht nach. Der Vergewaltiger bleibt frei, solange das Urteil noch nicht rechtskräftig ist. Die zuvor erteilten Meldeauflagen als Präventivmaßnahme zur Abwehr einer möglichen Flucht seien „ausreichend“.
Nuran Imir: Staat ist Schutzpatron der Vergewaltiger-Mentalität
Beobachtet wurde die Verhandlung von zahlreichen Politikerinnen und Politikern, Mitgliedern des zivilrechtlichen Verbands ÖHD, dem Menschenrechtsverein IHD und Aktivistinnen der Frauenorganisation Rosa. Anwesend waren auch die HDP-Abgeordneten Semra Güzel und Nuran Imir. Letztere bezeichnete das Urteil gegen Musa Orhan als „Schande“ für den angeblichen Rechtsstaat. „Wir sind heute Zeuginnen und Zeugen dessen geworden, dass dieser Staat der Schutzpatron der Vergewaltiger-Mentalität ist. Der Schuldspruch ist eine Farce. Denn der gesamte Prozess wirkte über die Strecke wie eine schlechte Inszenierung. Offiziell wurde Musa Orhan verurteilt, wir alle wissen aber, dass die Vergewaltigung, die ja ohnehin schon unter den Fittichen des Staates verübt worden war, nun de facto von der gelenkten Justiz amnestiert wurde. Damit wird die Politik der Straflosigkeit fortgesetzt“, kritisierte Imir.
Die Nebenklage hat Rechtsmittel gegen das Urteil angekündigt.
Vorgeschichte
Der Fall löste landesweit Entsetzen und Wut aus – und Proteste gegen die fehlende Umsetzung bestehender Gesetze zum Schutz von Frauen vor Gewalt. Ipek Er hatte am 16. Juli 2020 in Êlih (tr. Batman) versucht, sich mit einer Schrotflinte das Leben zu nehmen. Danach lag sie mehrere Wochen im Krankenhaus, am 18. August erlag sie ihren Verletzungen. Vor der Verzweiflungstat schrieb sie in einem Abschiedsbrief, von Musa Orhan über mehrere Tage gefangen gehalten, unter Drogen gesetzt und sexuell missbraucht worden zu sein. Die Justiz ließ den Mann daraufhin kurzzeitig festnehmen, doch wegen fehlender Fluchtgefahr kam er schnell wieder frei. Nach massiven Protesten der Frauenbewegung wurde Musa Orhan ein weiteres Mal festgenommen, um nur eine Woche später erneut entlassen zu werden. Auch mit Beginn des Prozesses im Oktober 2020 wurde er nicht verhaftet – obwohl die Vergewaltigung durch eine gerichtsmedizinische Untersuchung bestätigt worden war.