UN-Expertin: Türkei missbraucht Antiterrorgesetze als Maulkorb

Die UN-Expertin Mary Lawlor hat den Mangel an grundlegenden Menschenrechten in der Türkei angeprangert und das Land aufgefordert, die Kriminalisierung von menschenrechtlichem Engagement auf Grundlage der Antiterrorgesetze zu beenden.

Die UN-Menschenrechtsexpertin Mary Lawlor hat die Türkei aufgefordert, inhaftierte Menschenrechtler:innen freizulassen und ihre Kriminalisierung auf Grundlage der Antiterrorgesetzgebung zu beenden. „Ich bin äußerst besorgt darüber, dass die türkischen Antiterrorgesetze in großem Umfang dazu benutzt werden, menschenrechtliches Engagement zu behindern”, sagte Lawlor, Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen (UN) für den Schutz von Menschenrechtsverteidiger:innen, am Mittwoch in Genf.

Vor allem Rechtsanwält:innen, die Opfer von Menschenrechtsverletzungen, Polizeigewalt und Folter „oder einfach nur Oppositionelle” vertreten, würden von den Behörden ins Visier genommen, so Lawlor. Die Türkei verletze regelmäßig Elemente der Menschenrechte als eine der drei zentralen Säulen der UN, indem sie Verfechter:innen von Grundrechten ihrer Freiheit beraubt und damit gegen ihr Recht, den eigenen Beruf rechtmäßig auszuüben, verstößt. Der Fall des Bürgerrechtlers Osman Kavala, den die Türkei trotz eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) unter fadenscheinigen Anschuldigungen hinter Gittern behält, stehe sinnbildlich für ein Muster dieser juristischen Schikanierung und Verfolgung von Menschenrechtler:innen, sagte Lawlor.

Sorge um inhaftierte ÇHD-Anwälte

Lawlor sagte, sie habe der türkischen Regierung ihre Sorge um 14 Menschenrechtsanwält:innen mitgeteilt, die Haftstrafen von zehn Jahren oder länger verbüßen müssen, darunter neun Mitglieder der progressiven Juristenvereinigung ÇHD (Çağdaş Hukukçular Derneği). Eine Anwältin des Vereins, Ebru Timtik, starb vergangenen August an den Folgen eines monatelangen Hungerstreiks für ein faires Verfahren. Die UN-Sonderberichterstatterin äußerte sich zudem besorgt über die körperliche und seelische Verfassung von zwei inhaftierten Kolleg:innen Timtiks, Oya Aslan und Aytaç Ünsal. Beide sollen mehrfach in Haft gefoltert worden sein, eine medizinische Behandlung werde ihnen aber verwehrt. Die Gespräche mit der Regierung in Ankara zu ihrer Situation dauern laut Lawlor noch an.

Türkische Terrorparagraphen: Altbewährtes Instrument zur Kriminalisierung

Die türkische Führung nutzt seit Jahren ihre Antiterrorgesetze als Instrument, um Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger und Andersdenkende zu kriminalisieren und einzusperren, um sie zum Schweigen zu bringen. Vor allem gegen diejenigen, die ihre Stimme für die Lösung der kurdischen Frage erheben. Ihre „Delikte“ werden in der Regel zu Gunsten von „Terrororganisationen“ unter Strafe gestellt. Die „Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation“ beispielsweise wird sowohl vom türkischen Strafgesetzbuch (tStGB) als auch vom Antiterrorgesetz geregelt. Letzteres besagt in Artikel 7, dass, wer eine terroristische Vereinigung gründet oder befehligt oder wer sich an einer solchen Vereinigung als Mitglied beteiligt, nach Art. 314 des tStGB über die Bildung bewaffneter Gruppen verurteilt wird. Propaganda zugunsten einer terroristischen Organisation oder das Tragen von erkennbaren Zeichen einer solchen Organisation sind ebenfalls gemäß Art. 7 strafbar. Wer, ohne Teil einer Organisation zu sein, im Namen der Organisation eine Straftat begeht, wird nach Art. 220/6 tStGB wie ein Mitglied der Organisation bestraft. Dieser Fall tritt in der Regel zur strafrechtlichen Verfolgung von Demonstrant:innen ein, auch wenn dies gegen die Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit verstößt.

Zivilgesellschaft ebenfalls bedroht

Für Akteur:innen der Zivilgesellschaft sei die repressive Lage in der Türkei ebenfalls besorgniserregend, so Mary Lawlor. Auch in ihrem Fall berufen sich die Gerichte bei der Strafverfolgung auf die weit gefassten Terrorismusparagraphen. Dem Türkei-Repräsentanten von Reporter ohne Grenzen (RSF), Erol Önderoglu, sowie der Forensikerin Şebnem Korur Fincancı und dem Journalisten Ahmet Nesin drohen im neu aufgerollten Verfahren wegen ihrer Teilnahme an einer Solidaritätsaktion für die pro-kurdische Zeitung Özgür Gündem bis zu 14 Jahre Gefängnis. Gegen die Rechtsanwältin und Ko-Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD, Eren Keskin, laufen derzeit sogar mehr als 120 Strafverfahren. Die Gesamtstrafe beläuft sich auf 26 Jahre, neun Monate und zwanzig Tage. Lawlor fordert die Türkei mit Blick auf die zahlreichen Prozesse gegen Menschenrechtler:innen auf, das Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren zu respektieren.