Terrorverfahren gegen HDP-Mitglieder wegen stillem Protest

Weil sie mit der Perfomance „Stehender Mensch“ gegen die Festnahmewelle gegen die HDP im Zuge der „Kobanê-Ermittlungen“ protestiert haben, ist nun gegen zwei führende Parteimitglieder aus Mersin Anklage wegen Terrormitgliedschaft erhoben worden.

Wegen der Perfomance „Stehender Mensch“ gegen die Festnahme von führenden Mitgliedern der Demokratischen Partei der Völker (HDP) im Zuge der sogenannten Kobanê-Ermittlungen sind zwei Parteimitglieder aus Mersin der „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ angeklagt worden. Das Verfahren, das bilderbuchartig die Erosion des Rechts bei der türkischen Justiz reflektiert, richtet sich gegen Gülbahar Şöfer, Ko-Vorsitzende des Provinzverbands der HDP in der südtürkischen Küstenregion Mersin, sowie gegen Barış Karabıyık aus dem Parteirat. Beide hatten Ende September mit einem stillen Protest ihre Empörung über die damalige Repressionswelle zum Ausdruck gebracht, die mit der Fahndung nach 82 führenden Parteimitgliedern, darunter ehemalige Parlamentsabgeordnete sowie Bürgermeister*innen, Stadt- und Bezirksverordnete, begann und mit der Verhaftung von bislang 27 Personen endete.

Anzeige wegen „terroristischen Verhaltens“

Der stille Protest von Şöfer und Karabıyık fand am 28. September 2020 vor der HDP-Zentrale in Mersin statt. Schon am nächsten Morgen wurden beide vorübergehend festgenommen, weil sie von einer nicht näher benannten Person wegen „terroristischen Verhaltens“ bei der Polizei angezeigt worden seien. Nach der staatsanwaltlichen Überstellung an das Gericht mit einem Antrag auf Haftentscheidung ordnete die Strafabteilung des Amtsgerichts Mersin damals die Freilassung von Şöfer und Karabıyık gegen Meldeauflagen an. Nun wurde das Ermittlungsverfahren abgeschlossen und die Anklageschrift zugestellt. Die Generalsstaatsanwaltschaft Mersin beschuldigt Gülbahar Şöfer und Karabıyık, die kriminalisierte Performance „auf Anweisung der Terrororganisation” – gemeint ist die PKK, durchgeführt zu haben.

Barış Karabıyık trägt bei seiner Aktion ein T-Shirt mit der Aufschrift „Frieden statt Krieg“ | Quelle: MA

Staatsanwalt: Performance demonstriert „hohe Loyalität gegenüber PKK/KCK“

Wie der Anklageschrift zu entnehmen ist, sei die Staatsanwaltschaft im Besitz von vermeintlichen „Erkenntnissen“, wonach beide Beschuldigten mit dem stillen Protest gegen den Putsch gegen die HDP eine „hohe Loyalität gegenüber der PKK/KCK“ zeigten. „Als natürliches Ergebnis dieser Verpflichtung haben sie auf eigenen Wunsch hin bei der bewaffneten Terrororganisation mitgewirkt und eine organische Verbindung zu ihr hergestellt. Indem sie die Gründungszwecke, Aktivitäten und Aktionen der Terrororganisation verinnerlichten, haben sie sich freiwillig und bewusst in ihre hierarchische Struktur integriert und damit das Verbrechen begangen, Mitglieder der bewaffneten Terrororganisation PKK/KCK zu sein (…).“ Um was für Erkenntnisse es sich dabei handeln soll, behält die Behörde allerdings für sich.

Bis zu zehn Jahre Haft gefordert

Die Anklage fordert eine Bestrafung von Gülbahar Şöfer und Barış Karabıyık nach Art. 314 Abs. 2 TCK (türkisches Strafgesetzbuch). Damit drohen beiden mindestens fünf und maximal zehn Jahre Freiheitsstrafe. Das Verfahren wird am 27. April 2021 am 2. Schwurgerichtshof Mersin eröffnet.

Das sogenannte Kobanê-Verfahren

In dem in Ankara von der dortigen Generalstaatsanwaltschaft geführten „Kobanê-Verfahren“ wird die Verurteilung von insgesamt 108 Politikerinnen und Politikern, zivilgesellschaftlich agierender Personen sowie Mitgliedern des Exekutivkomitees der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) wegen „Zerstörung der Einheit des Staates und der Gesamtheit des Landes“ zu lebenslanger Haft gefordert, außerdem werden ihnen 37-facher Mord und Dutzende Mordversuche im Zusammenhang mit den Kobanê-Protesten im Oktober 2014 vorgeworfen.

Am Abend des 6. Oktober 2014 war es der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) nach 21 Tagen Widerstand der Verteidigungseinheiten YPG/YPJ sowie der Bevölkerung von Kobanê gelungen, ins Zentrum der westkurdischen Stadt einzudringen. Angesichts der kritischen Situation hatte die HDP die Öffentlichkeit zu einem unbefristeten Protest gegen die türkische Regierung aufgerufen, da diese ihre Unterstützung für den IS nicht beendete. Im Zuge dessen kam es in vielen Städten zu regelrechten Straßenschlachten zwischen Sicherheitskräften sowie paramilitärischen Verbänden wie Dorfschützern und Anhängern der radikalislamistischen türkisch-kurdischen Hisbollah (Hizbullah) und den Demonstranten. Die Zahl der dabei getöteten Personen, bei denen es sich größtenteils um Teilnehmende des Aufstands handelte, schwankt zwischen 46 (IHD) und 53. Die Regierung spricht lediglich von 37 Toten. Laut einem Bericht des Menschenrechtsvereins IHD wurden 682 Menschen bei den Protesten verletzt. Mindestens 323 Personen wurden verhaftet. Im Verlauf des Aufstands kam es zudem zu Brandanschlägen auf Geschäfte sowie öffentliche Einrichtungen.

Die türkische Regierung und ihre Justiz macht die HDP für diese Vorfälle verantwortlich. Als Beweismittel werden in der 3530 Seiten langen Anklageschrift unter anderem Berichte über die politischen Aktivitäten der Beschuldigten sowie ihre Äußerungen und Interviews herangezogen, die bei ANF veröffentlicht worden sind. Insgesamt sind 413 Seiten unserer Berichterstattung gewidmet worden, weil wir als erstes Medium vom Protestaufruf der HDP-Zentrale berichtet hatten. Weitere 62 Seiten behandeln die „Strukturen von PKK/KCK“, auf deren Anweisung der frühere HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtaş nach Auffassung des Oberstaatsanwalts mehrere Erklärungen abgegeben haben soll, unter anderem nach einem Besuch in Kobanê am 30. September 2014.

Neben mehr als 2.500 Einzelpersonen treten auch etliche Ministerien, Behörden, und Parteien als Nebenkläger auf, darunter die Ministerien für Inneres, Justiz und Verteidigung, das Ministerium für Arbeit, Soziales und Familie, die Zentralbehörde der türkischen Polizei, der türkische Geheimdienst (MIT), die Koalitionsparteien AKP und MHP, die CHP und die Hizbullah-nahe Partei Hüda Par. Die 82 Personen aus den HDP-Strukturen, die im vergangenen September von der Oberstaatsanwaltschaft Ankara zur Fahndung ausgeschrieben worden waren, gehören zu den insgesamt 108 Angeklagten im Kobanê-Verfahren.