„Türkei-Tribunal“ will Ankara vor Weltstrafgericht bringen

Auch wenn Ankara den Internationalen Strafgerichtshof nicht anerkennt, will das „Türkei-Tribunal“ den türkischen Staat wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Den Haag zur Verantwortung ziehen. Hierfür liegen 1.300 Aussagen von Opfern vor.

Europäische Juristinnen und Juristen haben den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag aufgefordert, Hinweise auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit des türkischen Staates gegen Oppositionelle auf der ganzen Welt zu prüfen. Das dem Gericht vorgelegte Dossier beinhaltet Vorwürfe der Folter, des Verschwindenlassens sowie der unrechtmäßigen Inhaftierung und Verfolgung von tausenden Opfern des Regimes von Recep Tayyip Erdogan, teilte die Initiative „Türkei-Tribunal“ am Mittwoch in Den Haag mit.

200.000 Menschen verschwunden, gefoltert oder willkürlich inhaftiert

Belgiens ehemaliger Vizeregierungschef Johan Vande Lanotte, der das Tribunal initiiert hat, zeigte sich zuversichtlich, dass der IStGH die Eingabe annehmen werde. „Die Türkei hat sich Verbrechen gegen die Menschlichkeit an Regimegegnern schuldig gemacht. Mehr als 200.000 Menschen verschwanden, wurden gefoltert oder willkürlich inhaftiert“, sagte Lanotte. Wichtige Mitglieder der türkischen Regierung „können nicht bestreiten, dass sie verantwortlich sind, weil sie ihre Verantwortung stolz verkündet haben“.

Verbrechen auch auf dem Grundgebiet von IStGH-Vertragsstaaten

Die Klageschrift wurde bereits im Februar eingereicht. Wegen des verheerenden Erdbebens in der türkisch-syrischen Grenzregion vor rund drei Wochen wurde die Bekanntgabe jedoch verschoben. Die Türkei ist zwar kein Vertragsstaat des IStGH, die Anwältinnen und Anwälte sind jedoch der Ansicht, dass die Anklage dennoch ermitteln könne. Denn zahlreiche Verbrechen an rund 1.300 Opfern hätte die Türkei auch auf dem Grundgebiet von 45 Vertragsstaaten des Gerichts begangen. Genannt wurden Entführungen sowie der willkürliche Entzug von Reisepässen. Die aufgeführten Fälle beziehen sich hauptsächlich auf Menschen, welche die politische Führung in Ankara mit dem im US-Exil lebenden islamischen Prediger Fethullah Gülen in Verbindung bringt. Ankara sieht in ihm den Drahtzieher des als „Geschenk Gottes“ bezeichneten Putschversuchs gegen Erdogan im Jahr 2016.

Ermittlungen auch gegen „hohe Beamte eines Nato-Verbündeten“ möglich

Der IStGH-Chefankläger Karim Khan muss nun entscheiden, ob das Gericht Ermittlungen aufnimmt. Die Einreichung wurde vom belgischen Anwaltsbüro „Van Steenbrugge Advocaten“ unterschrieben, das eine Reihe von Opfern vertritt, das Türkei-Tribunal, sowie von der Organisation Europäischer Richter und Ankläger (Medel). Nach Auffassung der Jurist:innen sei Khan zu Ermittlungen befugt, wenn systematische Verbrechen in einem Vertragsstaat begonnen hätten oder dort endeten. Die Initiator:innen berufen sich dabei auf den Fall von Myanmar. Auch dieses Land erkennt das Gericht zwar nicht an, dennoch leitete die Anklage Ermittlungen wegen der Verfolgung der Rohingya ein. Das ist möglich, da viele der verfolgten Menschen nach Bangladesch geflohen waren. Dabei handelt es sich um einen Vertragsstaat, sodass die Taten in einem Gebiet endeten, in dem der IStGH eingreifen konnte. Darüber hinaus könnten Ermittlungen auch gegen „hohe Beamte eines Nato-Verbündeten“ eingeleitet werden. Die Türkei ist Mitglied der Verteidigungsallianz.

Die Menschenrechtsanwältin und IHD-Vorsitzende Eren Keskin berichtete beim Türkei-Tribunal im September 2021 von ihren persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen mit Folter.


„Weil das Schweigen der größte Feind der grundlegenden Menschenrechte ist“

Das Türkei-Tribunal wurde 2021 im schweizerischen Genf als Initiative zum Schutz der Menschenrechte gegründet. Im selben Jahr hatte sich das Tribunal unter Beteiligung von renommierten Richter:innen wie etwa der ehemaligen Vizepräsidentin des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), Françoise Baroness Tulkens, mit den vom türkischen Staat ausgehenden Menschenrechtsverletzungen der letzten Jahre beschäftigt. Unter dem Leitsatz „Weil das Schweigen der größte Feind der grundlegenden Menschenrechte ist“ tagte das symbolische Gericht fünf Tage lang und kam zu dem Schluss, dass insbesondere Kurdinnen und Kurden und Anhänger der Gülen-Bewegung systematisch gefoltert werden. Ebenfalls kam die Beteiligung des türkischen Geheimdienstes MIT bei Entführungen aus dem Ausland auf die Tagesordnung.