Hubschrauber-Folter: Staatsanwalt erhöht Strafforderung gegen Opfer

In der ersten Anklageschrift hatte der Staatsanwalt zehn Jahre Freiheitsstrafe für Osman Şiban gefordert, der vom türkischen Militär gefoltert und aus einem Hubschrauber gestoßen wurde. Nun wurde die Strafforderung auf 15 Jahre erhöht.

Im Prozess gegen den kurdischen Zivilisten Osman Şiban hat die Anklagebehörde ihre Strafforderung erhöht. Im ersten Plädoyer hatte der Staatsanwalt noch bis zu zehn Jahre Freiheitsstrafe gefordert. Am Donnerstag jedoch plädierte er auf fünfzehn Jahre. Die Verteidigung erwirkte einen Aufschub des Verfahrens, der Prozess wird am 11. April fortgesetzt.

Osman Şiban ist gemäß korrigierter Anklageschrift nach Artikel 314/1 (zuvor 314/2) des türkischen Strafgesetzbuches angeklagt. Ihm wird vorgeworfen, Mitglied der Leitungsebene einer bewaffneten „Terrororganisation“ zu sein – gemeint ist die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Menschenrechtsorganisationen werten den Prozess gegen den 52-Jährigen als einen Racheakt der gelenkten Justiz und des Militärs. Denn der Kurde ist sowohl Zeuge als auch Opfer eines der schwersten Übergriffe der türkischen Armee auf die kurdische Zivilbevölkerung in den letzten Jahren.

Misshandelt und verschleppt, aus Hubschrauber gestoßen, erneut misshandelt

Zusammen mit dem 55-jährigen Servet Turgut wurde Osman Şiban im September 2020 in der Nähe von Şax (tr. Çatak), einem Landkreis in der Provinz Wan, während der Feldarbeit von Soldaten einer türkischen Operationseinheit festgenommen. Nach schwerer Folter stieß man beide Männer aus einem Militärhubschrauber. Dabei erlitten sie schwere Verletzungen. Das Militär lieferte Turgut und Şiban in zwei verschiedenen Krankenhäusern der Provinz ab – dem medizinischen Personal wurde erklärt, es handele sich um „Terroristen“, die bei der versuchten Flucht aus einem Helikopter verletzt wurden. Şiban überlebte das Martyrium, bleibt für den Rest seines Lebens schwer gezeichnet. Servet Turgut verstarb nach zwanzig Tagen im Koma.

„Die Soldaten nahmen uns fest und brachten uns zum Hubschrauber. Auf dem Weg dorthin schlugen sie uns die ganze Zeit. Auch als wir neben dem Helikopter lagen, ging die Tortur weiter. Irgendwann trat mir ein Soldat mit voller Wucht gegen den Kopf. Daraufhin wurde ich bewusstlos. An das, was danach geschah, kann ich mich nicht erinnern. Als ich wieder meine Augen öffnete, war ich in Mersin.“ - Osman Şiban im Januar 2021 bei einer polizeilichen Vernehmung als Beschuldigter | Foto: Der im Krankenhaus liegende Osman Şiban wenige Tage nach der Hubschrauber-Folter, September 2020


Absurditäten türkischer Justiz haben neue Qualität

Die Anklageschrift gegen Şiban ist mehr als fragwürdig und stellt symbolhaft den abgrundtiefen Hass gegen Kurdinnen und Kurden zur Schau, den Regierung und Behörden in der Türkei antreiben. So behauptet die Staatsanwaltschaft, die Hubschrauber-Folter sei in „Verdeckungsabsicht“ von Şiban erfunden worden, um vom Umstand abzulenken, dass er sich als „PKK-Milizionär“ betätige und „logistische Unterstützung“ für die Organisation betreibe. Der Verdacht gegen ihn erhärte sich unter anderem durch den Fund von drei Reservekanistern für Kraftstoff, die in einem Weiler in Şax in offenem Gelände entdeckt worden sein sollen. Weil das Haus von Şiban in der Nähe der Fundstelle liegt, könnten die Kanister nur vom Angeklagten dorthin geschafft worden sein, mutmaßt die Staatsanwaltschaft. 

Aufklärungsdrohne soll Haus des Opfers zwei Tage vor Verschleppung gefilmt haben

Weiter heißt es, jener Bereich des Weilers, in dem sich Şibans Haus befindet, sei am 9. September 2020, also zwei Tage vor der Hubschrauber-Folter, von einer Aufklärungsdrohne überflogen worden. Die Auswertung der gesammelten Daten hätte ergeben, dass es zum Zeitpunkt der Kontrollflüge zu Aktivitäten in dem Bereich gekommen sei, „die sich nicht stimmig in den üblichen Lebensfluss einfügen“ würden und damit nur von Mitgliedern der „Terrororganisation“ betrieben worden sein können. Zu guter Letzt verweist die Staatsanwaltschaft auf die Aussagen eines vermeintlichen Zeugen, der – sofern er überhaupt existiert – angegeben haben will, dass Şiban „langjähriges PKK-Mitglied“ sei und die Parteikader Murat Karayılan und Mahsum Korkmaz (letzterer ist am 28. März 1986 in Gabar gefallen) sein Haus zwischen den 80er und 90er Jahren regelmäßig aufgesucht hätten.

„Rechts waren sieben und auf der linken Seite waren vier Rippen gebrochen. An zwei Stellen im Gehirn gibt es Blutansammlungen, zudem hat er sich einen Lungenriss hinzugezogen. Aus dem eingerissenen Lungengewebe treten Luft und Blut in die Umgebung. Das Blut behindert die Atmung, deshalb wird er künstlich beatmet. Die Jochbeinknochen sind zertrümmert, außerdem leidet er an Augenhöhlenfrakturen. Diverse Knochen an Händen, Armen, Beinen und Füßen sind ebenfalls gebrochen.“ - Hüseyin Turgut, Sohn von Servet Turgut, im September 2020 zum Zustand seines zu dem Zeitpunkt komatösen Vaters Servet Turgut | Foto: Mezopotamya Ajansı (MA)


Opfer weist Vorwürfe zurück

Osman Şiban weist die Anschuldigungen zurück. Weder sei er Mitglied noch Milizionär der PKK, auch habe er keine in der Logistik verwendete Gegenstände dort hinterlassen. Sein Haus in Şax bewohne er nur im Sommer für einige Wochen, während der Ernte von Kräutern. Den Rest des Jahres lebe er in der südtürkischen Küstenmetropole Mersin. Ob sich während dieser Zeit fremde Personen Zugang zu seinem leerstehenden Haus verschafften, könne er nicht sagen. Darüber hinaus habe er nie Kontakt zu Karayılan oder anderen Kadern der kurdischen Arbeiterpartei gehabt. Sein Haus, dass er sich auf einer Alm in Wan gebaut hat, sei ohnehin erst in den Nullerjahren im Rahmen des Projekts „Rückkehr in die Dörfer“ entstanden. Entsprechend kann er dort weder von Karayılan noch von Korkmaz Besuch erhalten haben. Şiban war in den 1990er Jahren aus seinem Geburtsdorf in den Westen der Türkei vertrieben worden, als sich der Krieg in Nordkurdistan auf seinem Höhepunkt befand.

Verteidigung: Kafkaeske Zustände bei Gericht

Die Verteidigung von Şiban spricht von „kafkaesken Zuständen“ bei Gericht, aber schlagkräftige Beweise seien für die türkische Justiz in politischen Prozessen wie diesem ohnehin Nebensache. Dass es sich beim Umgang mit dem Kurden um den Racheakt einer militarisierten Justiz in einem Land wie der Türkei handele, der es an Rechtsstaatlichkeit fehle, sei nicht nur am Prozess gegen Şiban erkennbar. Fünf kritische Medienschaffende, durch deren Arbeit die Hubschrauber-Folter bekannt wurde, saßen ein halbes Jahr in Untersuchungshaft. Ihnen war vorgeworfen worden, staatsfeindliche Berichterstattung zugunsten der PKK betrieben zu haben. Der Prozess ging vor rund einem Jahr mit Freisprüchen zu Ende.

Akte um Hubschrauber-Folter unter Geheimhaltung

Die Ermittlungen um die Hubschrauber-Folter kommen gar nicht erst voran. Seit über zwei Jahren ist die Akte mit einer Geheimhaltungsverfügung belegt – der Fall ist als Verschlusssache eingestuft. Aus „Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ gilt zudem eine Nachrichtensperre über die Untersuchung, die laut dem Verteidigungsteam von Şiban gar nicht stattfindet. Das Vorgehen sei üblich, wenn es sich bei den Tätern um Staatsbedienstete oder Anhänger handelt. Bei kurdischen Opfern verstaubten die Akten solange in den Archiven der türkischen Justiz, bis die Fälle verjährt sind.