Anklage gegen Opfer von „Hubschrauber-Folter“

Gegen Osman Şiban, eines von zwei Opfern der sogenannten Hubschrauber-Folter in Wan, ist Anklage wegen vermeintlicher PKK-Mitgliedschaft erhoben worden. Bei einer Verurteilung drohen ihm bis zu zehn Jahre Gefängnis.

Gegen Osman Şiban ist Anklage wegen vermeintlicher PKK-Mitgliedschaft erhoben worden. Die Oberstaatsanwaltschaft Van wirft dem 51-Jährigen auf Grundlage „einschlägiger nachrichtendienstlicher Hinweise“ vor, „Milizionär einer bewaffneten Terrororganisation“ zu sein und als solcher „logistische Unterstützung“ betrieben zu haben. Diese bestünde vor allem in der Materialbeschaffung für Unterkünfte im ländlichen Raum zwischen Wan und Şirnex. Sollte Şiban verurteilt werden, drohen ihm nach Artikel 314/2 des türkischen Strafgesetzbuches bis zu zehn Jahre Haft.

Racheakt von Justiz und Militär

Die Anklage gegen Osman Şiban wird als Racheakt der gelenkten Justiz und des Militärs gewertet. Denn der Kurde ist sowohl Zeuge als auch Opfer eines der schwersten Übergriffe der türkischen Armee auf die kurdische Zivilbevölkerung in den letzten Jahren. Zusammen mit dem 55-jährigen Servet Turgut wurde Osman Şiban am 11. September 2020 in der Nähe von Şax (tr. Çatak) während der Feldarbeit von Soldaten einer türkischen Operationseinheit festgenommen. Nach schwerer Folter wurden sie aus einem Militärhubschrauber gestoßen. Dabei erlitten sie schwere Verletzungen.

Nach der Tortur wurden Osman Şiban und Servet Turgut in verschiedene Krankenhäuser eingeliefert. Dem medizinischen Personal erklärte das Militär, die beiden Männer seien Terroristen und verletzt worden, als sie versuchten, aus einem Helikopter zu entkommen. Şiban überlebte das Martyrium, ist für den Rest seines Lebens aber gezeichnet. Servet Turgut verstarb nach zwanzig Tagen im Koma.

„Beweise“: Reservekanister für Kraftstoff, MIT-Hinweise, angeblicher Zeuge

Als Beweise für die angebliche PKK-Mitgliedschaft von Osman Şiban werden in der Anklageschrift unter anderem drei Reservekanister für Kraftstoff aufgeführt, die in einem Weiler in Şax in offenem Gelände entdeckt worden sein sollen. Weil das Haus von Şiban, das er nur im Sommer bewohnt – den Rest des Jahres lebt er in der Küstenmetropole Mersin – in der Nähe der Fundstelle liegt, könnten die Kanister nur von dem 51-Jährigen dorthin geschafft worden sein, mutmaßt die Staatsanwaltschaft. Weiter heißt es, jener Bereich des Weilers, in dem sich Şibans Haus befindet, sei am 9. September 2020 von einer Aufklärungsdrohne überflogen worden. Die Auswertung der gesammelten Daten hätte ergeben, dass es zum Zeitpunkt der Kontrollflüge zu Aktivitäten in dem Bereich gekommen sei, „die sich nicht stimmig in den üblichen Lebensfluss einfügen“ würden. Zu guter Letzt verweist die Staatsanwaltschaft auf die Aussagen eines vermeintlichen Zeugen, der –sofern er überhaupt existiert – angegeben haben will, dass das Haus von Osman Şiban in den 80er und 90er Jahren regelmäßig von den PKK-Kadern Murat Karayılan und Mahsum Korkmaz (gefallen am 28. März 1986 in Gabar) aufgesucht worden sei.

Anklage: Beschuldigter lügt, um sich einer Bestrafung zu entziehen

Die Aussagen von Osman Şiban, die im vergangenen Januar im Rahmen einer polizeilichen Vernehmung als Beschuldigter zustande kamen, wertet die Staatsanwaltschaft Van als „Lügen“. Er habe die Unwahrheit gesagt, „um sich einer Bestrafung zu entziehen“. Şiban, der damals zwecks Überstellung in Mersin festgenommen worden war und nur durch eine rechtsmedizinisch festgestellte Transportunfähigkeit aufgrund seiner schlechten gesundheitlichen Verfassung wieder freigelassen wurde, hatte bei der Vernehmung angegeben: „Die Soldaten nahmen uns fest und brachten uns zum Hubschrauber. Auf dem Weg dorthin schlugen sie uns die ganze Zeit. Auch als wir neben dem Helikopter lagen, ging die Tortur weiter. Irgendwann trat mir ein Soldat mit voller Wucht gegen den Kopf. Daraufhin wurde ich bewusstlos. An das, was danach geschah, kann ich mich nicht erinnern. Als ich wieder meine Augen öffnete, war ich in Mersin.“

Noch kein Gerichtstermin

Die Anklageschrift gegen Osman Şiban wurde von der 5. Großen Strafkammer Van angenommen, wegen ortsbezogener Nichtzuständigkeit wurde die Sache an ein Gericht in Mersin abgegeben. Dieses hat sich bislang noch nicht auf einen Termin für die Prozesseröffnung festgelegt. Zunächst muss die Anklageschrift formell nochmals angenommen werden.