Türkei-Tribunal in Genf
In Genf hat das vom belgischen Verfassungsrechtler Johan Vande Lanotte initiierte Türkei-Tribunal zur Untersuchung der vom türkischen Staat in den letzten Jahren begangenen Menschenrechtsverletzungen begonnen.
In Genf hat das vom belgischen Verfassungsrechtler Johan Vande Lanotte initiierte Türkei-Tribunal zur Untersuchung der vom türkischen Staat in den letzten Jahren begangenen Menschenrechtsverletzungen begonnen.
In Genf in der Schweiz hat am Montag das vom belgischen Verfassungsrechtler Johan Vande Lanotte initiierte Türkei-Tribunal zur Untersuchung der vom türkischen Staat in den letzten Jahren begangenen Menschenrechtsverletzungen begonnen. Bei dem Gericht handelt es sich nicht etwa um eine von der EU oder der UN eingerichtete Institution, sondern um ein unabhängiges „Volksgericht“. Die beteiligten Richter:innen sind renommierte Wissenschaftler:innen und waren teilweise für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) tätig, wie etwa die ehemalige Vizepräsidentin Françoise Baroness Tulkens. Dr. Johann van der Westhuizen war Verfassungsrichter in Südafrika nach dem Ende der Apartheid.
Aufgabe des Türkei-Tribunals ist es, auf der Grundlage der von anderen internationalen Gerichtshöfen und Tribunalen erarbeiteten Standards und Grundsätze sowie der Erfahrungen mit den bewährten Praktiken nationaler Gerichte alle Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen, die unter der Gerichtsbarkeit der türkischen Behörden begangen wurden, in unabhängiger und professioneller Weise zu bewerten und zu beurteilen. Um die eigene Unabhängigkeit sicherzustellen, finanziert sich das Projekt ausschließlich über Crowdfunding.
Sechs Themenkomplexe
Das Tribunal beschäftigt sich mit den sechs Themenkomplexen Folter, verschwundene Personen, Straflosigkeit, Presse- und Meinungsfreiheit, Gesundheitsversorgung von Gefangenen sowie dem Recht auf ein faires Verfahren mit rechtlichem Beistand. Hierfür wurden detaillierte Expertisen angefertigt, auf deren Grundlage die Richterinnen und Richter die Fälle untersuchen. Im Verlauf des Prozesses werden Opfer verschiedener Arten von Menschenrechtsverletzungen aussagen. Alle Sitzungen des Prozesses werden live im Internet übertragen werden. In Zusammenarbeit mit dem International Observatory of Human Rights (IOHR) werden zudem Webinare veranstaltet, bei denen Expert:innenen und Betroffene über die einzelnen Themenkomplexe sprechen.
Eren Keskin sagt bei erster Sitzung aus
Die erste Sitzung des Tribunals begann mit Eröffnungsreden von dem Rektor der Universität Genf, Yves Flückiger, und Françoise Baroness Tulkens. Im Anschluss stellte Eric Sottas, Jurist und Mitbegründer der Weltorganisation gegen Folter (OMCT), einen Bericht über Folter in der Türkei vor. Darin anschließend schilderten Mehmet Alp und Erhan Doğan, zwei Folteropfer, die der Gülen-Bewegung nahestehen, ihre erschütternden Geschichten. Es ging um Vergewaltigungen und sexualisierte Gewalt in Haft, systematische Repression, Todesdrohungen und Ärzte, die sich weigerten, die Folter zu dokumentieren.
Eren Keskin sagte über ein Videokonferenzsystem aus
Systemische Folter
Auch die Rechtsanwältin Eren Keskin, die Ko-Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD ist, berichtete von ihren Erlebnissen. „In der Türkei ist Folter eine staatliche Politik, die im Speziellen gegen Oppositionelle, aber in erster Linie gegen Kurdinnen und Kurden eingesetzt wird“, sagte die 62-Jährige. Nicht nur die „ausführenden Folterer“ machten sich dieser Methode schuldig, fuhr Keskin fort. „Schuldig sind auch Staatsanwälte, die eine juristische Ahndung dieser Verbrechen verhindern; Richter, die Schuldige freisprechen; Ärzte der Gerichtsmedizin, die eine Dokumentation der Folter verweigern. Sie alle sind schuldig und Teil der systemischen Folter.“
Keskin hob hervor, dass Folter in der Türkei seit Gründung der Republik eine Regierungsmethode sei. „Insbesondere in den kurdischen Regionen wurde diese Form des staatlichen Regierens systematisch angewandt. Mit dem Erstarken der kurdischen Befreiungsbewegung nahm die Folter zu. Im Zuge des Militärputschs vom 12. September 1980 und vor allem in den 1990er Jahren wurde massiv gefoltert. Es gibt Fälle von Tod durch Folter und Verschwindenlassen.“
Keine freie Meinungsäußerung für Kurden
Laut Eren Keskin gelte für den Staat die freie Meinungsäußerung in Kurdistan als ein Verbrechen, das bestraft werden müsse. Die kurdischen Gebiete seien in eine „Landkarte von Menschenrechtsverletzungen“ verwandelt worden. Auch Keskin selbst, die seit 30 Jahren als Rechtsanwältin tätig ist, wurde Opfer dieser staatlichen Methode. Zwei bewaffnete Anschläge hat sie bisher überlebt. Sie war bereits im Gefängnis und wird mit Strafverfahren regelrecht überhäuft. Allein aufgrund ihrer Unterstützung für die per Notstandsdekret verbotene pro-kurdische Zeitung Özgür Gündem als symbolische Chefredakteurin wurden mehr als 140 Ermittlungsverfahren gegen Keskin eingeleitet. In einigen dieser Verfahren wurde sie in der Vergangenheit bereits zu hohen Geldstrafen und erstinstanzlich zu Haftstrafen in Höhe von knapp 24 Jahren verurteilt. „Bis auf Polizeiwaffen habe ich mein ganzes Leben lang keine andere Waffe zu Gesicht bekommen, trotzdem wurde ich wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation angeklagt – aufgrund meiner politischen Meinung“, sagte Keskin. Unter der AKP/MHP-Regierung sei das Recht auf Verteidigung de facto abgeschafft worden.
Das Tribunal wird am Dienstag fortgesetzt, das vollständige Programm ist unter folgendem Link einzusehen: https://turkeytribunal.com/events/schedule-of-the-2021-session-geneva-switzerland/