Türkei: 404 Tote durch Polizeikugeln in 14 Jahren

Seit in der Türkei im Zuge der EU-Beitrittsverhandlungen im Jahr 2007 das Polizeigesetz „reformiert“ wurde, sind 404 Zivilist:innen bei tödlichen Polizeieinsätzen erschossen worden. 93 der Opfer waren minderjährig.

Nach einem Bericht der Baran-Tursun-Stiftung wurden seit der Änderung am Artikel 16 des Gesetzes 2559 zu Pflichten und Kompetenzen der Polizei im Juni 2007 insgesamt 404 Personen durch unangemessene Gewaltanwendung der Polizei getötet. Wie aus dem 59-seitigen Dokument mit dem Titel „Bericht zu Verletzungen des Rechts auf Leben infolge unverhältnismäßiger Gewaltanwendung durch Strafverfolgungsbeamte – Sie hätten nicht sterben müssen“ der im westtürkischen Izmir sitzenden Stiftung hervorgeht, handelt es sich bei 93 der Opfer von Polizeigewalt um Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, 70 weitere waren Frauen.

Durch das im Bemühen um den Beitritt zur Europäischen Union vor vierzehn Jahren „reformierte“ Polizeigesetz ist Beamt:innen unter anderem der direkte Gebrauch der Schusswaffe bei „Fliehenden“ erlaubt, ebenso Durchsuchungen ohne Gerichtsbeschluss, die Deklarierung von Festnahmen als „Anhalten“ sowie Leibesvisitationen und willkürliche Abnahme von Fingerabdrücken. „In den meisten Fällen, die zum Tod von Zivilisten, einschließlich Kindern und Frauen, führten, wurde den Betroffenen das Recht auf Leben verwehrt, obwohl es keine Angriffe und Gewalt gegen die Polizei gab, keine bewaffneten Auseinandersetzungen mit der Polizei stattfanden, es keine Reaktion auf den Einfluss und die Aktionen der Sicherheitskräfte mit Waffen gegeben hat und es gleichermaßen keine gewaltsamen Handlungen gab, die das Leben und Eigentum anderer gefährdet hätten.“ Wenn überhaupt, wären die meisten Opfer nur wegen Ordnungswidrigkeiten angeklagt worden, hätten sie überlebt.

Zwar heißt es im Gesetzestext, dass die Dienstwaffe nur als „letzte Option“ gebraucht werden sollte, in der Regel sei der Griff nach der Pistole aber die „erste Reaktion“ bei tödlich endenden Polizeieinsätzen, stellt die Stiftung in ihrem Bericht fest. Das habe teilweise mit der mangelnden Ausbildung der türkischen Polizei und im Besonderen mit dem Versäumnis zu tun, Beamt:innen angemessen darin zu schulen, wie sie ihre Befugnisse und die rechtlichen Rahmenbedingungen in den Anwendungsbereichen ausüben. Der Bericht der Stiftung, die von der Familie des 20-jährigen Baran Tursun gegründet wurde, der Ende 2007 von der Polizei erschossen worden war, enthält eine Reihe von Handlungsempfehlungen. Unter anderem schlägt die Stiftung vor, dass eines Verstoßes gegen das Recht auf Leben verdächtigte Polizist:innen nicht im aktiven Dienst bleiben dürfen.

Um Straflosigkeit bei extralegalen Tötungen zu verhindern, dürften Täter zudem nicht mehr wegen minderer Verbrechen angeklagt werden. Als Lösung für das Problem der Beweisverschleierung fordert die Stiftung, Tatortuntersuchungen und Ermittlungen an die Militärpolizei zu übertragen und die Prozesse vor unabhängigen Gerichten verhandeln. Es sollten unabhängige und verlässliche Mechanismen eingerichtet werden, einschließlich NGOs, um zu überwachen und zu bewerten, wie das Gesetz über Polizeibefugnisse umgesetzt wird, insbesondere die Befugnis zum Anhalten, Durchsuchen und zur Anwendung von Gewalt. Auch sollten Einrichtungen geschaffen werden, die es alternativen öffentlichen Institutionen ermöglichen, bei der Untersuchung tödlicher Vorfälle mutig vorzugehen. Ein besonderes Anliegen ist, dass keine Vergeltungsmaßnahmen gegen die Angehörigen von den Getöteten ergriffen werden. Als der Mörder von Baran Tursun 2008 zu nur zwei Jahren Haft verurteilt wurde, forderte die Staatsanwaltschaft für seine Mutter dreieinhalb Jahre Gefängnis, weil sie zuvor gegen den juristischen Umgang mit dem Polizisten protestiert hatte.

Der vollständige Bericht kann auf der Webseite der Baran-Tursun-Stiftung eingesehen werden:  Englisch | Türkisch