Gerichtsurteil: Türkei muss Opfer von Polizeigewalt entschädigen

Der türkische Verfassungsgerichtshof hat einer von Polizeigewalt betroffenen Frau Schmerzensgeld zugesprochen. Das Urteil ist brisant, da die Zentralbehörde der Polizei ein Verbot von Ton- und Videoaufnahmen bei öffentlichen Vorfällen erwirken will.

Der türkische Verfassungsgerichtshof hat einer von Polizeigewalt betroffener Demonstrantin wegen der Verletzung ihrer Grundrechte ein Schmerzensgeld in Höhe von umgerechnet rund 4.000 Euro zugesprochen. Die Richter:innen befanden, dass das Vorgehen der Polizei gegen die Frau „exzessiv und unverhältnismäßig“ gewesen sei, und rügten einen Verstoß gegen Artikel 96 des türkischen Strafgesetzbuches, der den Straftatbestand der Quälerei regelt. „Die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der Anwendung von Gewalt durch die Sicherheitskräfte gegen die Antragstellerin konnte von den Strafverfolgungsbehörden nicht offengelegt werden“, heißt es in dem Urteil vom Donnerstag.

Klägerin in dem Verfahren war Şadiye Dilan Doğan. Die Aktivistin hatte sich nach dem Tod von Berkin Elvan in Istanbul an einer Protestkundgebung beteiligt und war von Polizisten in Kampfmontur mit einem Schlagstock traktiert worden. Berkin Elvan ist das jüngste Opfer des Gezi-Aufstands von 2013. Der Junge war am Rande der Proteste im Istanbuler Viertel Okmeydani durch eine von der Polizei abgefeuerte Gaskartusche schwer verletzt worden und lag 269 Tage im Koma. Am 11. März 2014 starb er im Alter von 15 Jahren. Nach dem Tod des Jungen war es landesweit zu Protesten gegen die Polizei gekommen.

Vor den erstinstanzlichen Gerichten hatte Şadiye Dilan Doğan keinen Erfolg mit einer Klage. Zunächst hatte der Gouverneur von Istanbul verhindert, dass gegen die Polizisten ermittelt wird. Die Eröffnung der Strafverfolgung gegen Beamt:innen und andere Angehörige des öffentlichen Dienstes wegen Straftaten, welche sie begangen haben sollen, ist, abgesehen von gesetzlichen Ausnahmen von der Genehmigung einer Verwaltungsbehörde abhängig. Später entschied ein Verwaltungsgericht, dass der beanstandete Polizeieinsatz verhältnismäßig gewesen sei. Nach Abweisung der Appellation zog die junge Frau vor den Verfassungsgerichtshof.

Die überraschende Entscheidung des Gerichts ist deshalb brisant, weil in der Türkei derzeit eine heftige Debatte um ein umstrittenes Rundschreiben der Zentralbehörde der türkischen Polizei läuft. Diese fordert nämlich vom Sicherheitspersonal, bei öffentlichen Vorfällen zu verhindern, dass von Polizist:innen Ton- und Videoaufnahmen gemacht werden. Şadiye Dilan Doğan hatte ihre Klage gegen die Polizeibehörde mit Videomaterial untermauert, in dem der Gewalteinsatz der Istanbuler Polizei dokumentiert ist.