TTB-Präsidentin Şebnem Korur Fincancı bleibt in Geiselhaft

Die wegen „Terrorpropaganda“ angeklagte Vorsitzende der türkischen Ärztekammer, Şebnem Korur Fincancı, bleibt vorerst in Untersuchungshaft. Das entschied ein Istanbuler Gericht am Freitag zum Prozessauftakt.

Die im Frauengefängnis Bakırköy inhaftierte Präsidentin der türkischen Ärztekammer (TTB), Şebnem Korur Fincancı, kommt vorerst nicht frei. Ein Gericht in Istanbul lehnte einen entsprechenden Antrag der Verteidigung der international bekannten Forensikerin und Menschenrechtlerin bei dem Prozessauftakt am Freitag ab. Zur Begründung teilte das Gericht mit, es bestehe weiterhin dringender Tatverdacht, außerdem liege der Haftgrund der Fluchtgefahr vor. Die Staatsanwaltschaft forderte erneut bis zu siebeneinhalb Jahre Freiheitsstrafe.

Şebnem Korur Fincancı befindet sich seit Ende Oktober in Untersuchungshaft, weil sie sich in einem Fernsehinterview mit dem kurdischen Sender Medya Haber für eine unabhängige Untersuchung der Chemiewaffeneinsätze durch die türkische Armee in Kurdistan aussprach. In dem Interview hatte die angesehene Rechtsmedizinerin und Anti-Folter-Expertin erklärt, sie habe sich Aufnahmen von Opfern eines mutmaßlichen Chemiewaffenangriffs angesehen. Ihre Symptome deuteten offenbar darauf hin, dass die Personen – es handelte sich um zwei Guerillakämpfer:innen – einer toxisch wirkenden, gasförmigen Substanz ausgesetzt wurden. Die Vorwürfe, dass es sich dabei um Giftgas gehandelt haben könnte, müssten daher entsprechend internationalen Standards geprüft werden.

Die Generalstaatsanwaltschaft wirft Fincancı deshalb „Propaganda für eine terroristische Organisation“ vor. Dabei hatte die 63-Jährige in dem Interview keine namentlichen Akteure benannt. Sie plädierte dafür, dass eine unabhängige Delegation die Vorwürfe vor Ort untersuchen müsse. Dabei bezog sie sich unter anderem auf das Minnesota-Protokoll, das zur Untersuchung potenziell rechtswidriger Todesfälle verfasst wurde. Insbesondere Vorfälle, bei denen der Verdacht auf die Verantwortung eines Staates besteht, stehen dabei im Vordergrund.

Blick in den Saal der 24. Großen Strafkammer zu Istanbul

Der Prozessauftakt an einer der großen Kammern für schwere Straftaten im Justizpalast Çağlayan wurde von Parlamentsabgeordneten, Ärztinnen und Ärzten, der Vereinigung der Rechtsanwaltskammern der Türkei (TBB) sowie lokalen wie internationalen Menschenrechtsorganisationen beobachtet. Zahlreiche Personen, darunter Medienschaffende sowie Mitglieder aus dem Verteidigungsteam von Fincancı, mussten draußen bleiben, da viele Plätze in den Zuschauerreihen für die Polizei reserviert worden waren. Fincancı wurde von einer elfköpfigen Gruppe aus Angehörigen der Gendarmerie (Militärpolizei) in den Gerichtssaal geführt, die sie völlig abschirmten, um Blickkontakt mit ihren Anwält:innen zu verhindern.

Fincancı sprach mit Blick auf die Militärs von „unmenschlichen Verhältnissen”. Zu Beginn ihrer Rede erklärte sie, während dem Transport aus dem Gefängnis und in der Folge im Gerichtsgebäude über mehrere Stunden an Armen und Beinen gefesselt und wie eine Schwerstverbrecherin behandelt worden zu sein. Die gegen sie erhobenen Vorwürfe wies sie als „an den Haaren herbeigezogen” zurück, den Verdacht der „Fluchtgefahr” bezeichnete sie ihrer Mission für die Menschenrechte unwürdig. Auch verurteilte sie Vorwürfe diverser Staatsvertreter, darunter Präsident Recep Tayyip Erdoğan, die Fincancı wegen ihrer Äußerungen rund um mutmaßliche Chemiewaffeneinsätze in Kurdistan der Verunglimpfung türkischer Streitkräfte und Beleidigung der Türkei beschuldigten.

„Als Ärztin und Forensikerin habe ich im besagten Interview eine Vorbeurteilung des Sachverhalts durchgeführt. Ich habe lediglich darauf hingewiesen, dass der Vorgang untersucht werden müsste. Mehr habe ich nicht getan”, so Fincancı. „Die Rechtsmedizin ist ein interdisziplinär ausgerichtetes medizinisches Fach für die objektive Wahrheit. Ich bin als Expertin auf diesem Gebiet anerkannt. Doch die in dieses Verfahren involierten Ermittler, Staatsanwälte und Richter glauben offenbar, sachkundiger als meine Person zu sein und sprechen mir meine fachliche Expertise ab.” Dies sei mindestens genauso erschreckend wie die Tatsache, dass auf staatlicher Ebene ein „politischer Lynchmord” gegen sie initiiert wurde, so Fincancı. Lieber hätte sie sich eine „wissenschaftliche Diskussion” gewünscht. Stattdessen werde sie wegen ihrer friedlichen Meinungsäußerung, und dies im Fach- und Anwendungswissen im eigenen Fachbereich, juristisch verfolgt.

Der Prozess gegen Şebnem Korur Fincancı wird am 29. Dezember fortgesetzt.