Aufnahmen von Chemiewaffenopfern veröffentlicht

ANF haben Aufnahmen von zwei durch türkische Chemiewaffen verletzten Guerillakämpfer:innen erreicht. Sie erlitten Lähmungen des Nerven- und Atmungssystems sowie Gedächtnisverlust.

Die türkische Besatzungsarmee setzt seit Mitte April chemische Waffen in den von der Guerilla kontrollierten Gebieten in Südkurdistan ein. Laut einer neuen Bilanz, die die Volksverteidigungskräfte (HPG) am 17. Oktober veröffentlichten, wurden in den letzten sechs Monaten mindestens 2476-mal verbotene Bomben und chemische Waffen eingesetzt. Diese Kriegsverbrechen sind von ANF mehrfach mit Bildern und Zeugenaussagen dokumentiert worden.

Im Oktober forderte die Organisation International Physicians Against Nuclear Warfare / Physicians for Social Responsibility (IPPNW) eine unabhängige Untersuchung des Chemiewaffeneinsatzes in Südkurdistan, da die vorliegenden Hinweise dafür ausreichten.

Eines der Ziele der Besatzungs- und Chemiewaffenangriffe ist das Widerstandsgebiet Werxelê in Avaşîn. ANF haben neue Aufnahmen dazu erreicht. Das Filmmaterial zeigt, wie eine Gruppe türkischer Soldaten an den Kriegstunneln von Werxelê eintrifft und einige Soldaten mit um die Hüften gebundenen Seilen am Eingang des Kriegstunnels heruntergelassen werden. Es ist zu sehen, wie die Soldaten Chemiewaffen in den Kriegstunnel werfen und sich dann schnell zurückziehen.

Verschiedene Formen von Giftgas

Zîlan Mêrdîn, eine Sanitäterin der Guerilla, die den Kämpfer:innen, die dem Giftgas ausgesetzt waren, erste Hilfe leistete, berichtet: „In den Tunneln von Werxelê herrscht ein sehr intensiver und permanenter Krieg. Fast jeden Tag lässt der Feind an den Eingängen der Tunnel zuerst große Bomben mit hoher Sprengkraft explodieren, unmittelbar danach oder gleichzeitig setzt er auch verschiedene Giftgase und Reizstoffe ein. Die Explosionen folgen direkt aufeinander, so dass nicht klar ist, was eigentlich passiert.

Baz und Helbest waren an unterschiedlichen Tagen, aber auf ähnliche Weise Chemiewaffenangriffen ausgesetzt. Nach den großen Explosionen hörten wir nichts mehr von den Freundinnen und Freunden. Sie wurden später an einen sicheren Ort gebracht, dabei wurden Schutzmaßnahmen getroffen. Wie sie berichteten, gab es in der Umgebung aufgrund der Explosion verschiedene Gerüche, aber sie konnten keinen sehr ausgeprägten Geruch von Chemiewaffen wahrnahmen, sondern ein dichtes graues Gas.“


Nervensystem beeinträchtigt“

Zîlan Mêrdîn erklärt, dass die beiden Kämpfer:innen, die dem Gas ausgesetzt waren, später, als sie aus dem Bereich gebracht worden waren, Anzeichen von Amnesie zeigten: „Sie konnten sich an nichts erinnern. Die Genossin Helbest hatte zunächst Gedächtnisverlust, dann unkontrolliertes Verhalten und Lachen, als ob sie verrückt geworden wäre. Dann verlor sie das Bewusstsein und verstarb.

Helbest konnte ihre Sprache und ihr Verhalten nicht kontrollieren. Das Giftgas, das sie eingeatmet hatte, hatte ihr Nervensystem beeinträchtigt und die normalen physiologischen Funktionen ihres Körpers wurden unterdrückt und gestört. Ihre plötzliche Euphorie war ein anormaler Zustand, der durch die Chemiewaffen verursacht wurde. Hevala Helbest war eine Kommandantin, die wir schon lange kannten, und sie hat so etwas in normalen Zeiten nie getan.

Wir wissen, dass der türkische Staat über chemische Waffen verfügt, die solche Wirkungen hervorrufen, und dass diese chemischen Waffen als ‚Nervengas‘ und ‚kapazitätsstörende Stoffe‘ bezeichnet werden. Sie setzen Tabun, Soman und Sarin als chemische Waffen ein. Obwohl ‚kapazitätsstörende Stoffe‘ in offenen Bereichen nicht absolut tödlich sind, können sie bei intensiver Exposition in geschlossenen Räumen tödlich sein. Wie der Name dieser chemischen Waffe vermuten lässt, geht es darum, das Nervensystem und die Willenskraft der Menschen zu zerstören, um sie kampfunfähig zu machen.“

Er war nicht bei sich“

Zîlan Mêrdîn berichtet, dass beim Guerillakämpfer Baz ähnliche Effekte auftraten: „Als die Freund:innen ihn erreichten und rausholten, konnte er sich an nichts mehr erinnern, er war bewusstlos. Er benahm sich, als wäre er verrückt geworden. Sein Zustand war noch ernster als der von Helbest. Wir wissen nicht genau, wie viele Minuten und welche Arten von chemischen Waffen er ausgesetzt war. Als unsere Freund:innen ihn erreichten, war er bereits zusammengebrochen. Wir begannen mit den ersten Interventionen, die wir kannten.

Der Freund hatte schwere Atemprobleme. Sein Atmungssystem und sein zentrales Nervensystem wurden schwer in Mitleidenschaft gezogen. Wie auf dem Filmmaterial zu sehen ist, waren bei ihm übermäßiges Schwitzen und Zitteranfälle zu beobachten. Sein Körper versuchte, so das Gift aus seinem Inneren zu vertreiben. Denn wenn ein Mensch vergiftet wird, aktiviert der Körper seinen Abwehrmechanismus und versucht reflexartig, das Gift durch Speichel und Schwitzen auszuscheiden. Deshalb hatte er auch Anfälle. Baz hatte Schwierigkeiten beim Atmen. Er machte keuchende Geräusche und versuchte stoßweise zu atmen.“

Wegen Chemiewaffeneinsatz gefallen“

Mêrdîn erklärt weiter: „Baz, Helbest und Demhat Têkoşîn sind gefallen, nachdem sie Angriffen mit Chemiewaffen ausgesetzt waren. Wir versuchten mit den begrenzten Mitteln, die uns zur Verfügung standen, einzugreifen, aber leider konnten wir unsere Freund:innen nicht retten. Der Feind griff jedes Mal von einem anderen Ort, auf eine andere Weise und mit anderen Arten von Chemiewaffen an. Wir haben solche Situationen erlebt und erleben sie immer noch. Wir sind nach wie vor denselben Angriffen ausgesetzt und leisten nach wie vor Widerstand. Viele unserer Genossinnen und Genossen leisten aufopferungsvollen Widerstand in den Stellungen. Alle sollten wissen, dass alle einzelnen Gefallenen unsere Wut, unsere Überzeugung und unseren Willen noch stärker machen.“