Samstagsmütter: Straflosigkeit beenden, Täter bestrafen

Aus Anlass des Internationalen Tages der Verschwundenen fordern die Initiative der Samstagsmütter und der Menschenrechtsverein IHD die türkische Regierung auf, die UN-Konvention gegen das Verschwindenlassen zu unterschreiben.

Die Initiative der Samstagsmütter und die Istanbuler Zweigstelle des Menschenrechtsvereins IHD haben die türkische Regierung aufgefordert, rechtswidrige Einschränkungen ihrer Mahnwachen zu beenden und die UN-Konvention gegen das Verschwindenlassen (CPED) zu unterschreiben. Hintergrund ist der Internationale Tag der Opfer des Verschwindenlassens, auch bekannt als Tag der Verschwundenen, der jährlich am 30. August begangen wird.

„Unsere Geschichte ist geprägt von einem Kampf für Wahrheit und Gerechtigkeit und gegen Unterdrückung und Verleugnung. Es ist ein Kampf, der gezeichnet ist von schwerer Brutalität, endloser Trauer und Folter“, heißt es in einer gemeinsamen Stellungnahme. Die Justizbehörden seien deshalb aufgefordert, die Straflosigkeit endlich zu beenden und Fälle des Verschwindenlassens in Polizeigewahrsam „unabhängig und mutig“ aufzuklären, um Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. An nationale und internationale Mechanismen zum Schutz der Menschenrechte appellieren die Samstagsmütter und der IHD, ihrer Mission entsprechend zu handeln und praktische Maßnahmen gegen die schwerwiegenden Verstöße gegen die Angehörigen von Verschwundenen zu ergreifen.

Internationaler Tag der Verschwundenen

Der Internationale Tag der Opfer des Verschwindenlassens am 30. August verweist seit 2011 auf die staatsterroristische, willkürliche Inhaftierung oder Entführung von Personen durch den Sicherheitsapparat oder durch paramilitärische Gruppen und Verbände, welche im Auftrag oder mit Duldung der Regierung handeln. Auskunft über den Verbleib der Personen wird von den Behörden anschließend verwehrt und der Vorwurf einer Freiheitsberaubung nicht anerkannt, so dass die betroffenen Personen sich außerhalb des rechtsgültigen Raums befinden. In vielen Fällen werden die Opfer jedoch nicht nur entführt, sondern auch gefoltert und ermordet. Verschwindenlassen wird oftmals eingesetzt, um innerhalb der Gesellschaft Schrecken zu verbreiten sowie Oppositionelle einzuschüchtern. Heutzutage wird die Praktik hauptsächlich in innerstaatlichen Konflikten angewandt, z.B. um politische Gegner zu unterdrücken.

17.000 Verschwundene in der Türkei

Die Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen gegen gewaltsames und unfreiwilliges Verschwindenlassen registrierte seit ihrer Einsetzung 1980 insgesamt knapp 60.000 solcher Fälle in mehr als 100 Staaten. Wie viele es tatsächlich sind, lässt sich nur spekulieren – denn die Dunkelziffer ist hoch. Allein in der Türkei gelten seit den 1980er Jahren etwa 17.000 Menschen, größtenteils Kurdinnen und Kurden, politisch Aktive und Engagierte, journalistisch und juristisch Tätige und einfache Landwirte als „verschwunden”. Mit dieser Praxis machte das Land nach dem Militärputsch vom September 1980 Bekanntschaft. Mitte der 90er Jahre, als der schmutzige Krieg des türkischen Staates gegen die PKK besonders blutig war, erreichte diese Methode ihren Höhepunkt.

Die Leichen der Verschleppten wurden in Massengräbern, Höhlen oder in stillgelegten Industrieanlagen verscharrt, auf Müllhalden geworfen, in Brunnenschächten und Säuregruben versenkt oder wie in Argentinien durch den Abwurf aus Militärhubschraubern beseitigt. Oft waren die Betroffenen von der Polizei oder der Armee zu Hause abgeholt worden, oder man hatte sie in die Wache vor Ort zu einer „Aussage“ bestellt, oder sie waren bei einer Straßenkontrolle des Militärs festgehalten worden. Das ist oft das letzte, was ihre Angehörigen vom Verbleib der Vermissten wissen. Die meisten „Morde unbekannter Täter“ gehen auf das Konto der religiös-extremistischen Terrororganisation Hizbullah sowie von JITEM. So lautet die Bezeichnung für den informellen Geheimdienst der türkischen Militärpolizei, der für mindestens vier Fünftel der unaufgeklärten Morde in Nordkurdistan verantwortlich ist und dessen Existenz jahrelang vom Staat geleugnet wurde.

Mahnwachen der Samstagsmütter seit 1995 

Synonym für das Schicksal der Verschwundenen stehen die Istanbuler Samstagsmütter, die seit 1995 analog zu den argentinischen „Madres de la Plaza de Mayo” Woche für Woche in Istanbul in Sit-Ins mit Bildern ihrer Angehörigen gegen deren „Verschwindenlassen“ protestieren und Aufklärung über deren Verbleib fordern.  Zwischen 1999 und 2009 mussten die Samstagsmütter ihre wöchentlichen Sit-Ins aussetzen, da die Polizei die Versammlungen regelmäßig auflöste.

Am 25. August 2018 kam die Initiative zum 700. Mal auf ihrem angestammten Platz vor dem Galatasaray-Gymnasium in der Istanbuler Fußgängerzone Istiklal Caddesi zusammen, um mit einer friedlichen Mahnwache an ihre verschwundenen Angehörigen zu erinnern. Doch auf Anordnung des türkischen Innenministers Süleyman Soylu fuhr die Polizei mit Wasserwerfern auf und griff die Menschenmenge mit Tränengas und Gummigeschossen an. Das gewaltsame Vorgehen sei berechtigt, weil sich die Samstagsmütter von Terrororganisationen instrumentalisieren lassen würden, hatte Soylu gesagt. Außerdem sei das 700. Treffen in den sozialen Netzwerken auch von Gruppierungen beworben worden, denen der Innenminister eine Nähe zur PKK unterstellt. Daher wolle man der „Ausbeutung und dem Betrug“ ein Ende setzen.

Seit nunmehr drei Jahren sind die Mahnwachen der Samstagsmütter verboten. Gegen 46 Mitglieder der Initiative, die bei der 700. Aktion vorübergehend festgenommen worden waren, läuft in Istanbul ein Prozess wegen „Verstoß gegen das Versammlungsgesetz“. Bei einer Verurteilung drohen ihnen jeweils bis zu drei Jahre Haft. Die Sit-ins der Samstagsmütter gehen dennoch weiter. Jede Woche wird die Mahnwache virtuell gehalten.