Die türkische Polizei hat erneut die wöchentliche Mahnwache der Samstagsmütter in Istanbul verhindert und mehr als zwei Dutzend Mitglieder und Unterstützende der Initiative festgenommen. Unter ihnen befinden sich die Ko-Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD, Eren Keskin, die ehemalige HDP-Abgeordnete Oya Ersoy und Cüneyt Yılmaz von der LGBTIQ+-Kommission des IHD.
Der Galatasaray-Platz vor dem gleichnamigen Gymnasium im zentralen Stadtteil Beyoğlu, wo die nunmehr 966. Aktion der Samstagsmütter für Aufklärung über ihre in staatlichem Gewahrsam „verschwundenen“ Angehörigen und eine Bestrafung der Täter stattfinden sollte, war seit dem frühen Morgen weiträumig durch Barrieren und Gitter abgesperrt. Die Bereitschaftspolizei war mit einem Großaufgebot im Einsatz und verhinderte, dass sich die Initiative und solidarische Menschen dem Platz nähern konnten.
Die Beteiligten hatten sich an mehreren Punkten auf der Einkaufsmeile Istiklal in Bewegung gesetzt, um rote Nelken auf dem Galatasaray Meydanı abzulegen. Noch vor Erreichen des Platzes wurden sie umstellt und teils unter Anwendung von Gewalt in Handfesseln gelegt und abgeführt. Die Polizei begründete das Vorgehen mit einem vom örtlichen Landratsamt erteilten Versammlungsverbot, an das sich die Samstagsmütter nicht gehalten hätten. Musa Piroğlu, ebenfalls früherer Abgeordneter der HDP, der seit einem Arbeitsunfall auf dem Bau auf einen Rollstuhl angewiesen ist, wurde von sogenannten Anti-Aufruhr-Einheiten in einen gesonderten Kessel genommen. Die Beamten behinderten auch mehrere Journalist:innen bei der Dokumentation des Polizeieinsatzes.
Hanife Yıldız wurde heute von dem Einsatzleiter beschuldigt, sie würde eine „Show abziehen“. Sie entgegnete: „Es ist keine Show, wenn man 28 Jahre lang um Gerechtigkeit für sein vermisstes Kind kämpft.“ | Foto: MA
Den Festgenommenen drohen indes Anzeigen wegen Verstoß gegen das türkische Versammlungsgesetz. Unter ihnen sind auch Besna Tosun, Tochter des 1995 in Istanbul „verschwundengelassenen“ Kurden Fehmi Tosun, und Hanife Yıldız, Mutter von Murat Yıldız. Der damals 19-Jährige ist ebenfalls 1995 in Izmir in Polizeihaft verschwunden. Gleichermaßen wurden İkbal Eren, İrfan Bilgin, Mikail Kırbayır, Hasan Karakoç, Ali Ocak, Newroz Ali Tosun, Leman Yurtsever, Nazım Dikbaş, İsmail Yücel, Şükran Diler, Türkan Acar, Ömer Kavran, Hatice Onaran, Seyit Doğan, Begali Kurnaz, Davut Arslan, Hüseyin Aygül, Doğan Özkan, Gülendam Özdemir, Cem Güncü und Zehra Demir festgenommen.
Verfassungsgericht stärkt Rechte von Samstagsmüttern
1995 gingen Frauen in Istanbul zum ersten Mal auf die Straße, um auf festgenommene und dann verschwundene Verwandte aufmerksam zu machen. Seit einem vom Innenministerium angeordneten Großangriff auf die Samstagsmütter im August 2018 ist der Galatasaray-Platz für die Samstagsmütter eine Sperrzone. Dies aber steht im Widerspruch zum Recht auf Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit, urteilte der türkische Verfassungsgerichtshof am 22. Februar 2023 und verwarf den Einwand des Ministeriums, das den „Schutz der öffentlichen Ordnung“ durch die Samstagsmütter bedroht sieht. „Jedermann hat das Recht, ohne vorherige Erlaubnis an unbewaffneten und friedlichen Versammlungen und Demonstrationen teilzunehmen“, heißt es in Artikel 34 der türkischen Verfassung, gegen den die Sicherheitsbehörden mit ihrer Verbotsverfügung für die gewaltsam aufgelöste Aktion der Samstagsmütter vor fünf Jahren und alle folgenden verstoßen haben. Die Blockade des Platzes sei damit hinfällig. Die nunmehr 26. Woche in Folge finden die Mahnwachen der Gruppe deshalb wieder auf der Istiklal Caddesi statt in einer kleinen Nebenstraße vor der Zweigstelle des Menschenrechtsvereins IHD statt. Die Polizei ignoriert das Urteil des Verfassungsgerichts und löst den Protest Woche für Woche auf.