Symbolisches Kriegsverbrechertribunal
Das Richtergremium des Permanent Peoples‘ Tribunal (PPT) on Rojava vs. Turkey hat sein vorläufiges Urteil verkündet und darin schwere Vorwürfe gegen hochrangige türkische Regierungsmitglieder wegen Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen im Norden Syriens angeprangert. Die Aussagen von Zeug:innen und vorgelegten Beweise zeigten ein klares und erschütterndes Muster: Die kurdische Bevölkerung Rojavas werde wegen ihrer Identität und ihres Strebens nach einer Gesellschaft auf der Grundlage von Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität systematisch bestraft; ihre Kultur und Existenz gezielt ausgelöscht, resümieren die Richter:innen des symbolischen Gerichts, das am Mittwoch und Donnerstag an der Freien Universität Brüssel tagte und Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit behandelte, die der Türkei und mit ihr verbundenen paramilitärischen Gruppen seit 2018 in Rojava vorgeworfen werden.
Genozidale Motivation am Beispiel Efrîn
Besonders drastisch sei die Situation in Efrîn (Afrin), das 2018 im Zuge eines Angriffskrieges von der Türkei besetzt wurde: Der kurdische Bevölkerungsanteil sank von über 90 Prozent auf weniger als 25 Prozent, nachdem hunderttausende Menschen vertrieben und an ihrer Stelle arabische und turkmenische Personen angesiedelt wurden. Geschäfte und Straßennamen wurden durch türkische Bezeichnungen ersetzt, die Währung und das Postwesen auf die Türkei umgestellt, die kurdische Sprache im Bildungswesen verdrängt. Land und Eigentum wurden enteignet, Fabriken demontiert, die Olivenproduktion beschlagnahmt und als türkisches Produkt vermarktet.
Berichte belegten, dass viele Menschen aus Efrîn mehrfach vertrieben wurden: zuerst in die – inzwischen ebenfalls besetzte – Şehba-Region nördlich von Aleppo, wo sie in überfüllten Flüchtlingslagern ohne medizinische Versorgung und Grundbedürfnisse lebten, und zuletzt nach Tabqa infolge einer weiteren Welle militärischer Operationen. Der Weg dorthin führte durch gefährliches Kriegsgebiet. Insgesamt sollen rund 120.000 Menschen aus Şehba vertrieben worden sein, von denen rund 80 Prozent Frauen, Kinder sowie Ältere und Kranke sind. Die Gesamtzahl der Vertriebenen im Zuge der jüngsten Vertreibungswelle, die Ende November parallel zu der Türkei-gesteuerten SNA-Offensive gegen Nord- und Ostsyrien einsetzte, wird laut dem Tribunal derzeit auf 300.000 geschätzt.
Das Tribunal, das auf Verlangen verschiedener Menschenrechtsorganisationen aus Europa sowie Nord- und Ostsyrien einberufen wurde, hörte Berichte über willkürliche Verhaftungen, Folter, sexualisierte Gewalt, das gewaltsame Verschwindenlassen und extralegale Hinrichtungen. Ehemalige Schulen, landwirtschaftliche Gebäude und Bahnhöfe seien in Geheimgefängnisse der Besatzung umgewidmet worden, in denen schwere Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung stünden. Zeug:innen schilderten, dass politische Aktivist:innen und Rettungskräfte gezielt ermordet und Gefangene täglich gefoltert und Frauen und Mädchen Opfer systematischer Vergewaltigungen durch türkische Geheimdienstmitarbeiter würden. Viele Überlebende trauten sich aus Angst vor erneuter Inhaftierung oder Folter nicht, darüber zu sprechen.
Gezielte Angriffe auf Infrastruktur und Umwelt
Zudem dokumentierten die Ankläger:innen die bewusste Zerstörung lebenswichtiger ziviler Infrastruktur, darunter Elektrizitätswerke, Wasserquellen und Krankenhäuser. Dies habe zu katastrophalen humanitären Bedingungen geführt, darunter Ausbrüchen von Cholera und Dysenterie. Es gebe Belege für den Einsatz von weißem Phosphor, dessen Verwendung gegen Zivilpersonen völkerrechtlich verboten ist.
Internationales Recht und die Verantwortung der Türkei
Das Tribunal stellte fest, dass die Präsenz und Angriffe der Türkei auf syrisches Territorium ohne Genehmigung des UN-Sicherheitsrates ein völkerrechtliches Verbrechen der Aggression darstellen. Die systematische Gewalt, die Zwangsumsiedlungen, die Zerstörung von Infrastruktur und die gezielte Unterdrückung der kurdischen Kultur könnten als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen eingestuft werden. Die erhobenen Beweise würden zudem den Verdacht auf Völkermord erhärten.
Die Beweiserhebung habe zu der Schlussfolgerung geführt, dass folgende Personen für die genannten Verbrechen verantwortlich sind:
• Präsident Recep Tayyip Erdogan
• Hulusi Akar, Verteidigungsminister von 2018 bis 2023
• Hakan Fidan, ehemaliger Geheimdienstchef und heutiger Außenminister
• Yaşar Güler, ehemaliger Generalstabschef und heutiger Verteidigungsminister
• General Ümit Dündar
Die internationale Verantwortung
Das Richtergremium hält fest: „Die internationale Gemeinschaft hat Kenntnis von den Verbrechen am kurdischen Volk, doch bisher keine wirksamen Maßnahmen ergriffen.“ Es fordert die Anerkennung der Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen an den Kurdinnen und Kurden in Rojava, die juristische Ahndung der Verantwortlichen und die internationale Anerkennung der Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyriens (DAANES) als legitime Vertretung der dortigen Bevölkerung. Insbesondere soll sichergestellt werden, dass die militärischen Angriffe der Türkei auf die kurdische Bevölkerung umgehend gestoppt werden, um einen vollständigen Völkermord zu verhindern.
Das Permanent Peoples’ Tribunal
Das Permanent Peoples’ Tribunal (PPT) steht in der Tradition der sogenannten Russell-Tribunale, deren erstes 1966 auf Initiative des britischen Philosophen und Literaturnobelpreisträgers Bertrand Russell und des sozialistischen Politikers Ken Coates abgehalten wurde. Das Tribunal sollte damals Menschenrechtsverletzungen sowie Verstöße gegen das Völkerrecht seitens der US-Armee in Vietnam dokumentieren und untersuchen.
Das beim letzten der „Russell-Tribunale“ 1979 in der italienischen Stadt Bologna gegründete Permanent Peoples‘ Tribunal hat seitdem in mehr als 50 Sitzungen ungeahndete und unbeachtete Menschenrechtsverletzungen angeprangert und symbolisch verurteilt. Die Sitzung zu Rojava war die 54. und hat die Folgen und Auswirkungen der türkischen Kriegführung und Besatzungspolitik im Norden Syriens thematisiert und anhand der Schilderungen von Zeug:innen, Betroffenen und Menschenrechtler:innen die Verbrechen der türkischen Armee und der mit ihr verbündeten dschihadistischen Milizen belegt.
Die Türkei ist seit 2016 viermal völkerrechtswidrig gegen die selbstverwalteten Gebiete im mehrheitlich von Kurdinnen und Kurden bewohnten Norden Syriens vorgegangen und hält weiterhin einen großen Teil syrischen Territoriums besetzt. Der italienische Richter Giacinto Bisogni erklärte bei der Eröffnung des Tribunals im Namen des PPT, dass das „Schweigen“ das „schlimmste Verbrechen der internationalen Gemeinschaft“ sei, und erklärte, es sei das Ziel der Veranstaltung, „die Stimmen der Menschen aus Rojava zu Gehör zu bringen“.
Neben Bisogni gehören auch Domenico Gallo (Italien), José Elías Esteve Molto (Spanien), Czarina Golda S. Musni (Philippinen), Gabrielle Lefèvre (Belgien), Rashida Manjoo (Südafrika) und Frances Webber (Vereinigtes Königreich) zum Richtergremium des PPT. Die Anklage wurde vertreten durch Jan Fermon (Belgien); Şerife Ceren Uysal (Türkei); Rengin Ergül (Kurdistan); Urko Aiartza Azurtza (Baskenland); Efstathios C. Efstathiou (Zypern); Socrates Tziazas (Zypern); Anni Pues (Deutschland); Barbara Spinelli (Italien); Declan Owens (Irland); Ezio Menzione (Italien); Heike Geisweid (Deutschland) und Florian Bohsung (Deutschland).