Der türkische Staat verfolgt eine „Nekropolitik“ als eine Form der Kriegsführung. Leichen von gefallenen Guerillakämpfer:innen oder ermordeten Oppositionellen werden den Angehörigen in Säcken und Paketen übergeben und oft auch grausam verstümmelt. Die Bilder der verstümmelten Leichen erreichen häufig die sozialen Medien und stellen eine Form des Spezialkriegsführung dar, mit der der Widerstandswille der Bevölkerung gebrochen werden soll. Friedhöfe, auf denen Oppositionelle und Guerillakämpfer:innen bestattet sind, werden zerstört, die Toten aus den Gräbern gerissen und auf respektlose Weise zum Beispiel unter Fußwegen vergraben.
„Hundertjährige Kontinuität“
Adnan Orhan, Mitglied der Initiative „Respekt und Gerechtigkeit für die Toten“, spricht in diesem Zusammenhang von einer hundertjährigen Kontinuität und stellt seine Initiative vor: „Deshalb ist es unsere Haltung und unser Ansatz als Initiative für Respekt und Gerechtigkeit für die Toten, der Respektlosigkeit gegenüber den Toten und den Friedhöfen Einhalt zu gebieten und das Recht der Menschen aller Glaubensrichtungen zu verteidigen, ihre Toten in einer Weise zu bestatten, die der Würde des Menschen entspricht.“
Erst kürzlich führte der Umgang mit den Gebeinen von Hakan Arslan, der 2016 während des Widerstands für Selbstverwaltung im Bezirk Sûr in Amed (tr. Diyarbakir) gefallen war, zu einem Aufschrei. Die sterblichen Überreste wurden seinem Vater Ali Rıza Arslan in einem Sack im Justizgebäude in Amed übergeben.
Orhan betrachtet dieses Vorgehen in einer historischen Kontinuität und weist darauf hin, dass in der Türkei die marginalisierten Urbevölkerungsgruppen, insbesondere auch die Kurd:innen, schon immer eine solche Politik gegenüber ihren Toten erleben mussten. Er erinnert an die Verfolgung verschiedenster Völker in der Türkei und dem Osmanischen Reich und an die Massaker von Agirî, Zîlan (1930), Dersim (1938) und Koçgiri (1920), bei denen unzählige Männer, Frauen und Kinder zu Opfern des türkischen Nationalstaats und seinem rassistischen Selbstverständnis wurden.
„Was in den vergangenen 40 Jahren passiert ist, ist unvorstellbar“
Orhan blickt in die Geschichte der Republik Türkei und sagt: „Die Mentalität hat sich nie geändert und zeigt sich bis heute in Form von rassistischen und faschistischen Reden und Handlungen. Wenn wir die letzten 40 Jahre betrachten, erscheint das, was in dieser Zeit geschehen ist, einfach unvorstellbar. Wir wissen, dass in den 1990er Jahren Dörfer niedergebrannt, außergerichtliche Hinrichtungen und Tötungen ohne Gerichtsverfahren durchgeführt wurden. Menschen wurden aus Hubschraubern geworfen oder in Bächen und Säurebrunnen versenkt. Wir sahen auch, wie die Leichen der Ermordeten an Panzern festgebunden und über den Boden geschleift wurden. Wir wissen, dass während der Ausgangssperren die Leichen tagelang nicht begraben wurden, dass man ihre Gebeine den Familien per Fracht oder in einer Kiste im Gerichtsgebäude übergeben hat, dass man die Friedhöfe zerstört hat. Auf der anderen Seite werden kranke Gefangene in den Gefängnissen dem Tod überlassen. Eine Änderung dieser Politik war keiner bisherigen Regierung ein Anliegen. Auch die jetzige Regierung hat nicht mit dieser Tradition gebrochen und es geht unverändert weiter.“
„Ein Ergebnis des monistischen Selbstverständnisses“
Als Orhan die Bilder sah, wie die Gebeine von Hakan Arslan seinem Vater in einem Sack übergeben wurden, sah er sich selbst an die 1990er Jahre erinnert: „Mein Vater, mein Onkel und meine Cousins wurden in ein Massengrab im Dorf Hacanan (tr. Bağcılar) in Pasûr (Kulp) geworfen. Die Knochen wurden dann aus dem Massengrab geholt und unserer Familie in einem Beutel übergeben. Anschließend wurden sie auf Beschluss der Staatsanwaltschaft in einem Sack auf einen Friedhof für Personen ohne Angehörige verscharrt. Ich habe diesen Schmerz, der Ali Rıza Arslan zugefügt wurde, tief in meinem Herzen nachempfunden und war sehr traurig. Das zeigt, dass das Verständnis der 1990er Jahre leider immer noch vorhanden ist. Es gibt keine Rechtfertigung für so etwas. Es ist unmoralisch, unmenschlich und unrecht. Die Situation ist also klar, und es hat sich nicht viel geändert. Diese Politik ist Ausdruck der monistischen Mentalität, die besagt, dass man nicht bereit ist, irgendjemanden außer sich selbst zu akzeptieren und anderen kein Recht auf Leben zuzugestehen.“
„Die Hinterbliebenen müssen ihre Toten bestatten können“
Orhan unterstreicht, dass der Respekt vor den Toten einen universellen Wert darstellt. Er fordert, dass die Angehörigen ihre Toten bestatten können: „Denn das Leben eines Menschen ist vorbei. Die Hinterbliebenen erfüllen ihre letzte Pflicht gegenüber ihren Toten. Die Beerdigung ist auch ein Abschied von ihnen. Die Hinterbliebenen wollen sich angemessen von ihren Toten verabschieden. Das ist in jeder Gesellschaft der Fall. Jeder Mensch will seine Angehörigen gemäß der jeweiligen Überzeugung begraben. Die Misshandlung von Toten schadet dem Gewissen der Gesellschaft. Sie erregt den Hass der Menschen. Alle Menschen haben das Recht, ihre Toten in Würde zu bestatten. Als Initiative für Respekt und Gerechtigkeit für die Toten ist es daher unsere Haltung und Arbeit, der Respektlosigkeit gegenüber den Toten und den Friedhöfen Einhalt zu gebieten und dafür einzutreten, dass Menschen aller Glaubensrichtungen das Recht haben, ihre Toten in einer der Menschenwürde entsprechenden Weise zu bestatten. Es geht darum, dieses rücksichtslose Vorgehen zu entlarven und zu betonen, dass jeder Mensch ein Recht auf ein Leben in Demokratie und Würde hat.“