Die Leiche in der Tüte

Der Vater von Hakan Arslan hat sechs Jahre dafür gekämpft, seinen Sohn würdevoll zu beerdigen. Dass ihm die sterblichen Überreste in einer Tüte übergeben wurden, war beschämend für die Menschheit, sagt der kurdische Familienvater.

In den letzten Jahren hat sich der Krieg des türkischen Staates gegen die Gefallenen des kurdischen Befreiungskampfes und ihre Angehörigen verschärft. Gräber werden systematisch zerstört, Leichen werden geschändet und den Hinterbliebenen wird das Recht auf Trauer verwehrt. Der Fall von Hakan Arslan stellt einen weiteren Höhepunkt in einer Kette von menschenrechtswidrigen und traumatisierenden Vorfällen dar.

Hakan Arslan kam 2016 während der Belagerung des Altstadtbezirks Sûr in Amed (tr. Diyarbakir) ums Leben. Freunde beerdigten ihn neben einer Kirche, wo 2021 seine Knochen gefunden wurden. Trotz DNA-Abgleich dauerte es noch fast ein weiteres Jahr, bis der Staat den Leichnam freigab. Die Generalstaatsanwaltschaft Diyarbakır übergab Ali Rıza Arslan die sterblichen Überreste seines Sohnes am Montag in einer Tüte. Am selben Abend konnte endlich die Beisetzung auf einem Friedhof in seinem Heimatdorf in der Provinz Erzîrom stattfinden.


Ali Rıza Arslan hat ANF in Erzîrom von seinem Kampf für eine würdevolle Bestattung seines Sohnes in den letzten sechs Jahren berichtet. Die Familie lebt in Çavuşköy im Kreis Bêraqdar (auch Qereyazî, tr. Karayazı). Hakan hatte sechs Geschwister, mit denen er sich gut verstanden habe, erzählt sein Vater. Er sei sehr respektvoll mit anderen Menschen umgegangen und habe ihm bei der Arbeit im Dorf geholfen. 2015 habe er ihm mitgeteilt, dass er zu seinen großen Brüdern nach Istanbul gehen wolle, um dort zu arbeiten.

„Seine Brüder arbeiteten auf dem Bau, er selbst war dann in der Textilbranche beschäftigt. Damals dachte ich, dass er sich in diesem Jahr verloben würde. Als seine Mutter mit ihm darüber sprach, wollte er noch etwas mehr Zeit haben. Wir willigten ein. Acht Tage nach diesem Gespräch brach der Kontakt zu ihm ab. Sieben Monate und zwanzig Tage später wurde im Fernsehen berichtet, dass unser Sohn in Sûr verblutet ist. Ich hatte bereits seit einiger Zeit ein schlechtes Gefühl und eine unbestimmte Ahnung, dass ihm etwas zustoßen könnte. Einen Tag vorher hatten wir in den Nachrichten gesehen, dass es in Sûr zu einer heftigen Explosion gekommen war. Ich erzählte meinen Freunden im Dorf davon und sagte, dass ich das Gefühl habe, meinem Sohn sei etwas zugestoßen. Abends kam dann die Meldung von seinem Tod im Fernsehen.“

Jeder einzelne Tag war eine Tortur

Als die Nachricht eintraf, war tiefer Winter, überall lag Schnee, berichtet Arslan weiter: „Ich bin trotzdem sofort nach Amed gefahren. Dort wurde mir bestätigt, dass mein Sohn gefallen ist. Ein Freund führte mich in der Nähe von Sûr herum. Es fühlte sich so an, als ob ich überall in die Fußstapfen von Hakan trete. In den folgenden sechs Jahren habe ich dafür gekämpft, den Leichnam von meinem Sohn zu bekommen. Jeder einzelne Tag war eine Tortur. Ich habe die ganze Zeit auf einen Anruf gewartet, auf eine Nachricht von Hakan. Bis Februar 2021 habe ich jeden Tag auf eine Nachricht gehofft. Dann wurde mir telefonisch mitgeteilt, dass Hakans Leiche in Sûr gefunden worden ist. Vorher hatten wir immer wieder versucht, den Staatsanwalt zu einer Untersuchung in dem Viertel zu bewegen. Die Polizei hat jedoch behauptet, dass bereits Untersuchungen stattgefunden haben und dort keine Leiche ist.“

Ali Rıza Arslan gab eine Blutprobe zum DNA-Abgleich ab, bei der eine Übereinstimmung von unter sechzig Prozent festgestellt wurde. „Das reichte nicht aus und drei Monate später wurde ein DNA-Abgleich von seiner Mutter gefordert. Die Probe ergab eine Übereinstimmung von 95 Prozent. Danach wurde die Leiche zur Autopsie ins gerichtsmedizinische Institut in Istanbul geschickt. Dort blieb sie neun Monate. Am 25. August rief mich mein Anwalt an und sagte, dass der Leichnam freigegeben worden ist. Am Montag konnte ich ihn abholen.“

Ich habe die Tüte zugebunden und in den Arm genommen“

Er habe nicht damit gerechnet, dass ihm die sterblichen Überreste seines Sohnes im Justizgebäude und in einer Tüte übergeben würden, sagt Arslan: „Ich dachte, dass der Leichnam in der Gerichtsmedizin ausgehändigt wird und im Justizgebäude nur die offiziellen Angelegenheiten geklärt werden müssen. Uns war nicht mitgeteilt worden, dass die Übergabe dort stattfindet. Sie brachten die Leiche und öffneten die Tüte, nahmen eine CD heraus und reichten mir die Tüte. Ich war sehr traurig, als ich die Knochen sah. Ich fragte, ob sie mir auf diese Weise die Leiche aushändigen. Sie sagten, dass sie so aus dem gerichtsmedizinischen Institut in Istanbul gekommen sei. Ich habe die Tüte zugebunden und in den Arm genommen. Dann habe ich das Gebäude verlassen.“

Arslan sagt, dass er in dem Moment sehr gemischte Gefühle hatte. Er sei glücklich gewesen, weil er endlich die Leiche seines Sohnes bekommen habe. Die Art der Übergabe habe ihn jedoch schwer getroffen: „Wer über ein bisschen Menschlichkeit verfügt, hätte sich geschämt. Wenn ein Mensch stirbt, wird seine Leiche in einem Sarg übergeben, nicht in einer Tüte. Als ich wieder zu Hause war, habe ich das Foto von mir vor dem Justizgebäude gesehen. Ich habe mich wie tot gefühlt. Das Foto zerreißt mich. Meine Schwester wollte es löschen, aber ich will, dass es irgendwo erhalten bleibt.

Nach der Übergabe habe ich die Leiche ins Auto gelegt. Auf dem Weg haben wir das Leichentuch geöffnet und die Knochen in einen Sarg gelegt. Wir haben ihn auf dem Friedhof im Dorf begraben. Wir sind die ganze Zeit von der Militärpolizei verfolgt worden. Der Geheimdienst observiert mich. Es wurde auch nicht erlaubt, dass uns im Trauerhaus kondoliert wird. Wir dürfen nur in unserem eigenen Haus trauern. Damit sollte verhindert werden, dass viele Menschen zusammen kommen.“