Menschenrechtsverein fordert Freilassung erkrankter Gefangener

Laut der Vorsitzenden des Istanbuler Büros des Menschenrechtsvereins IHD, Gülseren Yoleri, lassen sich viele Gefangene in der Türkei nicht mehr ins Krankenhaus bringen, um den restriktiven Quarantänemaßnahmen zu entgehen.

Während Erdoğans AKP-Regierung zu Beginn der Corona-Pandemie unzählige Häftlinge freiließ, unter denen sich auch Mafiabosse und Vergewaltiger befanden, sind alle politischen Gefangenen weiterhin in Haft.

Im Gespräch mit ANF berichtet die Vorsitzende des Istanbuler Büros des Menschenrechtsvereins IHD, Gülseren Yoleri, über diverse Verletzungen der Grundrechte von Gefangenen in der westtürkischen Marmararegion. So seien die Eingriffe in die Rechte der Gefangenen seit Beginn der Pandemie immer größer geworden; gleichzeitig ließen sich diese Eingriffe in der momentanen Situation auch noch einfacher vor der Öffentlichkeit verbergen. So wurden Besuche von Familien und Anwält*innen sowie der Briefverkehr eingeschränkt, wodurch weniger Informationen über die Situation der Gefangenen nach außen dringt. Trotz einer leichten Lockerung der Besuchsbeschränkungen sei es noch immer nicht möglich, Bücher oder Zeitschriften an die Gefangenen zu übergeben. Diese Form der Isolation von der Außenwelt führe zu erhöhtem Stress bei den Gefangenen und sei mitverantwortlich für Erkrankungen in einer Zeit, in der ein gutes Immunsystem essentiell sei.

Wer kein Geld hat, kriegt auch keine Maske

Wie Yoleri erklärt, gebe es außerdem große Probleme bei der Ernährung und der Hygiene, worauf die Gefängnisverwaltungen trotz unzähliger Warnungen von Experten nicht reagierten. Masken, Hygieneartikel und Nahrungsmittel, die den Gefangenen eigentlich kostenlos zur Verfügung stehen sollten, werden in den Kantinen gegen Geld verkauft. „Zudem bekommen die Gefangenen selbst dann nicht genug Waschmittel, wenn sie Geld haben, weil die Mengen begrenzt sind. Eine Zelle mit drei Gefangenen bekommt einen Becher Waschmittel. Und wer kein Geld hat, hat gar keinen Zugriff auf Waschmittel oder Atemschutzmasken“, so Yoleri.

Besondere Belastung für erkrankte Gefangene

Wer zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt wurde oder an einer Erkrankung leidet, werde besonders hart von den neuen Umständen getroffen. Gefangene, die zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt wurden, bekämen lediglich eine Stunde frische Luft am Tag; dies sei ein massiver Eingriff in ihre Grundrechte. Medizinische Behandlung ist laut Yoleri in türkischen Gefängnissen schon immer ein problematisches Thema gewesen, doch in Zeiten der Pandemie sei sie quasi komplett zum Erliegen gekommen: „Wir können nicht mehr von fehlender und unzureichender Behandlung sprechen, es geht hier um die komplette Aussetzung der Grundrechte.“ Meistens würde sich entweder die Haftanstalten weigern, Gefangene einzuliefern, oder die Gefangenen selbst würden sich gegen eine Einlieferung ins Krankenhaus entscheiden, um den harten Bedingungen der anschließenden Quarantäne zu entgehen.

Yoleri beschreibt die Bedingungen der Quarantäne als menschenunwürdig. Sie erinnert an den ehemaligen Polizisten, der im August in einer Quarantänezelle umgekommen ist, nachdem er zuvor per Regierungsdekret aus dem Dienst entlassen worden war. „So eine Quarantäne wird nicht nur nach Krankenhausaufenthalten, sondern nach jeder Art von Transfer verhängt. Diese Quarantäne wird auf zwei verschiedene Arten umgesetzt, als Einzelquarantäne oder als gemeinsame Quarantäne. Bezüglich der ersten Variante: Stellen Sie sich vor, Sie würden wegen einer lebensbedrohlichen Situation ins Krankenhaus eingeliefert, es findet eine Notfallbehandlung statt und bei der Rückkehr müssen sie 14 Tage, was aber auch noch verlängert werden kann, in einer Einzelzelle bleiben. Diese Zellen ähneln denen, die sonst als Strafmaßnahme benutzt werden. Laut den Beschwerdeberichten, die wir erhalten, sind sie feucht und haben kaum Luftzirkulation. Dass eine Person, die sowieso schon schwer krank ist und eine Notfallbehandlung hinter sich hat, 14 Tage an so einem Ort festgehalten wird, ist nicht zu akzeptieren. Alle kranken Gefangenen stehen der gleichen Gefahr gegenüber wie der Polizist, der in einer Quarantänezelle ums Leben kam. Deshalb wollen sie sich nicht mehr in Behandlung begeben. Zudem gibt es auch eine Ungleichbehandlung von politischen Gefangenen gegenüber den anderen. Politische Gefangene berichten uns meistens von Einzelquarantäne, während andere Gefangene uns schreiben, dass sie die Quarantäne in Sammelzellen verbringen. Die Diskriminierung ist gut sichtbar. Wir stellen fest, dass politische Gefangene sowohl bei der Quarantäne als auch bei anderen Vorgängen härter behandelt werden.“

Es fehlt der Wille, die Bedingungen zu verändern

Vor dem Hintergrund der steigenden Zahl von Todesfällen in türkischen Gefängnissen seit Beginn der Pandemie betont Yoleri die Notwendigkeit, vor allem Gefangene, die zu Risikogruppen gehören oder deren Behandlung verhindert wird, umgehend freizulassen. Der Haftantritt von Verurteilten könne nach hinten verschoben werden, andere könnten unter Auflagen aus dem Gefängnis entlassen werden. „Für die, die zurückbleiben, müssen die Einschränkungen in der medizinischen Behandlung beseitigt werden. Die Maßnahmen nach einer Verlegung müssen auf humane Weise durchgeführt werden. Wenn der Wille dafür besteht, wäre dies auch möglich. Die Gefängnisverwaltungen könnten in Zusammenarbeit mit dem Ministerium die Bedingungen verändern. Aber da eine Sicherstellung menschenwürdiger Bedingungen von den Verantwortlichen nicht gewollt ist, erleben wir derart gravierende Probleme“, so Yoleri.