Wie viele Leichname von gefallenen Kämpferinnen und Kämpfern der kurdischen Guerilla derzeit im rechtsmedizinischen Institut von Şirnex aufbewahrt werden, weiß niemand so genau. In der Leichenhalle der staatlichen Einrichtung kommen als erstes die sterblichen Überreste von Mitgliedern der Volksverteidigungskräfte (HPG) und den Freien Frauenverbänden (YJA Star) an, die in den angrenzenden Medya-Verteidigungsgebieten im südlichen Kurdistan ums Leben gekommen sind. Wer glaubt, dass sie dann bedingungslos an ihre Angehörigen übergeben werden, um eine würdevolle Bestattung zu erhalten, der irrt. Denn die Leichen von Gefallenen des kurdischen Befreiungskampfes stellen für die Türkei ein Schlachtfeld der psychologischen Kriegsführung dar. Mal werden sie verstümmelt, mal in demütigenden Posen im Internet präsentiert, und mal aus ihren Ruhestätten verschleppt, um unter Gehwegen verscharrt zu werden.
Gefallene: Waffe der psychologischen Kriegsführung
„Am schlimmsten ist jedoch die Ungewissheit und das Warten der Gefallenen-Angehörigen auf die Ergebnisse von DNA-Analysen“, sagt Serhat Küçük, Ko-Vorsitzender der Zweigstelle des Solidaritätsvereins MEBYA-DER für Menschen, die Angehörige im kurdischen Befreiungskampf verloren haben. „Trotz eindeutiger Identifizierung durch Hinterbliebene beharren die Behörden zur Klärung der familiären Abstammung auf Blutuntersuchungen. Die Ergebnisse liegen in der Regel zwar schon nach einigen Tagen vor, werden aber über sechs oder sieben Monate zurückgehalten, in vielen Fällen auch für noch längere Zeit. In der Zwischenzeit kommen die Leichen der Gefallenen auf sogenannten Friedhöfen für Namenlose unter die Erde.“ Ziel dieser Foltermethode sei die völlige Zermürbung, so Küçük. Der Staat benutze gefallene Kämpferinnen und Kämpfer als Waffe der psychologischen Kriegsführung, um die Gesellschaft an Ganzes zu brechen, zu demütigen und das Andenken an die Toten zu beschmutzen.
Ein zerstörerisches Leiden
„Hilfs- und Solidaritätsverein für Menschen, die ihre Angehörigen in der Wiege der Zivilisationen verloren haben“ lautet der volle Name des Vereins MEBYA-DER, der Zweigstellen in mehreren kurdischen Städten unterhält. „Seit wir unsere Arbeit aufgenommen haben, stehen wir vor enormen Herausforderungen“, sagt Serhat Küçük. Sobald Angehörige über die Presse oder in digitalen Netzwerken vom Tod ihre Kinder erfahren, brechen sie nach Şirnex auf. In der Rechtsmedizin beginnt dann das „große Warten“. Tage, Wochen und Monate vergingen so vor der Leichenhalle, in der Hoffnung, die toten Körper ihrer Söhne und Töchter zu empfangen. „Es gibt Familien, die bis zu einem Jahr auf die Freigabe der Toten ausharren müssen“, erklärt Küçük. Das sei wie eine Zäsur, wie ein Schnitt im Leben für diese Menschen. Ein zerstörerisches Leiden.
Forderung: Respekt vor der Totenruhe
„Wir wollen nicht, dass die Hinterbliebenen der Gefallenen diesen Schmerz auf sich nehmen. Für die Abgabe von DNA-Proben reicht es aus, sich an die örtliche Staatsanwaltschaft zu wenden“, appelliert Serhat Küçük an die Familien. Sie brauchen also nicht auf die schmerzvolle Reise nach Şirnex oder andere Regionen beziehungsweise Todesorte zu begeben. MEBYA-DER sei dafür da, die Angehörigen bestmöglich zu unterstützen und die Hauptlast des Kampfes um die Freigabe der Toten abzunehmen. Von der Regierung fordert Küçük ein sofortiges Ende dieser barbarischen Form von Unterdrückung – und Respekt vor der Totenruhe.
MEBYA-DER ebenfalls Ziel von Repression
Nicht nur Menschen, die ihre Familienmitglieder im kurdischen Befreiungskampf verloren haben, sind im Visier dieses Zermürbungskrieges des türkischen Staates. Auch MEBYA-DER selbst als Verein, der sich gegen diese Taktik der psychologischen Kriegsführung stellt, steht im Fokus der staatlichen Repression. Nicht nur die Ko-Vorsitzenden der in Amed (tr. Diyarbakir) ansässigen Zentrale sind im Gefängnis, auch zahlreiche Mitglieder wurden in den vergangenen Monaten verhaftet. Der Vorwurf: Mitgliedschaft in einer bewaffneten Organisation – gemeint ist die PKK. Auch Seniorinnen wie die über siebzigjährigen Frauen Meryem Soylu und Hatun Aslan kamen schon unter Terrorvorwürfen hinter Gitter. Verfahren laufen auch in Şirnex und Wan.