Abdulkadir Kuday und Ergin Aktaş sind in einer Zelle im Hochsicherheitsgefängnis Metris in Istanbul inhaftiert. Beide sind schwer krank. Kuday war am 8. Oktober 2014 während der Proteste wegen des Angriffs des IS auf Kobanê in Qoser (tr. Kızıltepe) bei Mêrdîn (Mardin) festgenommen und unter dem Vorwurf der „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ inhaftiert worden. Er wurde zu einer verschärften lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Sein Gesundheitszustand ist schlecht. Er wurde an der Bandscheibe operiert, doch die Operation erwies sich als Fehldiagnose und die Schmerzen ließen nicht nach. Schließlich wurde bei ihm Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) diagnostiziert, eine Krankheit, die zu zunehmenden Lähmungen und Krämpfen führt.
Sprache verloren, bettlägerig, aber dennoch „haftfähig“
Seit 2021 ist Kuday in Metris inhaftiert. Aufgrund seiner schweren Erkrankung fiel sein Gewicht unter 40 Kilogramm. Am 1. Dezember 2021 stellte Dr. Ismail Fehmi Cumalıoğlu vom Bezirkskrankenhaus Tekirdağ in einem Bericht fest, dass Kuday „im Gefängnis nicht überleben“ könne. Am 2. Dezember wurde ihm dennoch Haftfähigkeit bescheinigt und er wurde in ein R-Typ-Gefängnis verlegt. Währenddessen verlor Kuday weitgehend die Fähigkeit zu sprechen und wurde bettlägerig. Die Vollzugsstaatsanwaltschaft begründete die Verweigerung der Entlassung Kudays mit der Behauptung, er sei weiterhin „gefährlich für die Gesellschaft“. Kuday kann mittlerweile nicht mehr aufstehen und wird beatmet. Neue Entlassungsanträge wurden nicht beantwortet.
COPD-Kranker Gefangener ohne Hände wegen „Gefährlichkeit“ nicht entlassen
Sein Mitgefangener Ergin Aktaş wurde 2011 im Bezirk Bazîd (Doğubayazıt) in der nordkurdischen Provinz Agirî (Ağrı) unter dem Vorwurf der „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ inhaftiert und zu einer doppelten lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt. Aktaş ist seit 2019 im Metris R-Typ-Gefängnis inhaftiert. Er leidet an COPD und ihm fehlen beide Hände. Er wird nicht entlassen, obwohl selbst die Gerichtsmedizin sechsmal bestätigt hat, dass er nicht „alleine im Gefängnis leben könne“. Die Entlassung von Aktaş wird mit der Begründung verhindert, dass „die Möglichkeit besteht, dass er wieder Aktionen durchführen werde“.
Die beiden Gefangenen beantworteten über ihre Anwält:innen Fragen der Nachrichtenagentur Mezopotamya (MA).
Kuday unterstrich, dass das Leben im Gefängnis große Anstrengungen und Energie erfordere. Er betonte, seinen Kampf nicht aufzugeben, egal wie die Bedingungen seien. Über den Gefängnisalltag berichtete er: „Wir beginnen den Tag um 8 Uhr morgens mit ‚Rojbaş‘. Wir bereiten unser Frühstück gemeinsam und genossenschaftlich vor. Dann schalten wir unser Radio ein und hören ein bis zwei Oppositionssender. Auf diese Weise verfolgen wir die Nachrichten und Entwicklungen. Nachdem wir aufgeräumt haben, lesen wir gemeinsam Bücher. Die Zeitung kommt um 12.00 Uhr auf unsere Station. Normalerweise lesen wir die Zeitung nach dem Mittagessen. Dann haben wir einen zweistündigen Hofgang und gehen raus. Zuerst versucht Heval Ergin, mit dem Rollstuhl von Serdal Yıldırım (am 19. August entlassen) seine Runden zu drehen.“
„Einer ohne Hände, der andere ohne Bein“
Kuday weiter: „Nachdem wir unsere Runden gedreht haben, sprechen wir miteinander. Dann gehen wir auf unsere Station. Wenn wir keine Schmerzen haben, versuchen wir, etwas zu schlafen. Wenn man wach bleibt, dann liest man normalerweise. Auch nach dem Abendessen verbringen wir Zeit mit dem Lesen von Büchern. Manchmal sehen wir uns einen guten Film oder eine Dokumentation im Fernsehen an. Es gibt auch politische Diskussionssendungen. Aber wir schauen uns diese Sendungen nicht an, da sie meistens von Rassisten dominiert werden. Manchmal veranstalten wir abends Schachspiele. An wichtigen Tagen singen wir Lieder und rezitieren Gedichte. Um 24 Uhr gehen wir schlafen. Wenn nichts Neues passiert, vergehen unsere Tage auf diese Weise. Ich sollte auch sagen, dass Serdal und Ergin sich in ihrer Arbeit ergänzten. Einer ohne Hände und einer ohne Beine. Sie kamen zusammen und wurden zu einer Person mit Armen und Beinen.“
„Der Widerstand wird siegen“
Kuday wies darauf hin, dass ihre Zimmer sehr eng und die Bedingungen schwierig seien, betonte aber, dass ihre Moral trotz aller Widrigkeiten gut sei und sie den Tag voller Liebe beginnen würden. Kuday erklärte, dass es vielen kranken Gefangenen weitaus schlechter gehe und fügte an: „Wenn ich ihre Situation sehe, verstehe ich das kurdische Volk besser. In der Tat hat die Unterdrückung aktuell keine Grenzen mehr. Aber unsere Haltung ist auch eine Antwort auf die Unterdrückung. Solange diese Verfolgung anhält, wird der Widerstand weitergehen und wir werden am Ende siegen.“
„Das Wichtige ist, wie man stirbt“
Kuday erklärte, dass der Tod für jedes Lebewesen Realität sei, aber die Frage nach dem „Wie sterben?“ das Wichtige sei: „Meine Genossen, meine Familie, Bekannten und Freunde sollten wissen, dass ich seit Jahren in den Gefängnissen viele Dinge gelernt habe. Ich werde immer noch auf einer Bahre zum Krankenhaus und zurück gebracht. Das ist eine nicht enden wollende Quälerei. Erst neulich haben sie mich wieder ins Krankenhaus gebracht. Es war, als ob von irgendwoher ein Befehl gekommen wäre. Nachdem sie mich ins Krankenhaus gebracht hatten, wurde ich auf eine Weise misshandelt, über die ich nicht sprechen kann. Als sie mich zum ersten Mal ins Krankenhaus brachten, sagten sie zueinander: ‚Er ist von der PKK.‘ Danach wurde die Behandlung unmenschlich. In den vier Tagen, die ich dort verbrachte, gaben sie mir kein Wasser. Ich kehrte in einem erbärmlichen Zustand in den Kerker zurück.“
„Sie wollen, dass ich im Krankenhaus sterbe“
Kuday berichtete, wie er vor kurzem in das städtische Krankenhaus von Tekirdağ gebracht wurde: „Bis jetzt haben sie immer gesagt: ‚Es gibt keine Heilung für Ihre Krankheit.‘ Wenn ich früher sagte, dass es mir nicht gut gehe, sagten sie: ‚Es ist alles in Ordnung mit Ihnen.‘ Aber jetzt bringen sie mich gewaltsam ins Krankenhaus. Denn sie wollen, dass ich im Krankenhaus sterbe. Also habe ich ihnen gesagt, sie sollen mich von einem Arzt untersuchen lassen. Wenn ich im Krankenhaus bleiben muss, kann ich eine Begleitperson haben. Aber sie weigerten sich. Ich möchte, dass die Ärztekammer (TTB) meine Situation genau betrachtet, denn ich vertraue dem Krankenhaus nicht.“
„Beerdigt mich neben Baran und Mazlum“
Kuday appellierte abschließend: „Unser Volk muss seine Einheit aufbauen. Lasst es unsere Sprachen und Kulturen verteidigen. Lasst uns einander gegenseitig lieben, unsere Lasten und Schmerzen lindern. Lasst uns auf allen Ebenen nach vorne schreiten. Wie Sie wissen, findet auf Imrali eine schwere Isolation statt. Lasst uns darum kämpfen, die Isolation auf Imralı zu durchbrechen. Nachdem mein Sohn gefallen ist, hat nun meine Familie die Nachricht erhalten, dass auch mein Neffe gefallen ist. Ich weiß, dass meine Familie viel gelitten hat, ich teile ihren Schmerz. Wenn ich sterbe, sollen sie mich neben meinem Sohn Seyid Rıza (Dijwar Baran) und meinem Neffen Elîşêr (Şiyar Mazlum) begraben.“
„Blick nach Imrali“
Der Gefangene Aktaş erklärte, dass das Festhalten des Regimes an seiner Kriegspolitik die Situation für die Gefangenen noch schwerer mache. Er wies auf die Ausbreitung der Isolation auf die gesamte Gesellschaft hin und erklärte, dass man nach Imrali blicken müsse, um die Wahrheit über die türkische Regierung zu verstehen: „Die Isolation auf Imralı widerspricht den grundlegenden humanitären, ethischen, moralischen und juristischen Werten. Die Botschaft lautet dabei, dass das Gesetz mit Füßen getreten wird, wenn es um Kurden geht. Die Regierung verschärft die Isolation vor allem in den Gefängnissen weiter. Ein uraltes Volk mit einer Millionenbevölkerung wird ins Visier genommen, und es wird mit allen Mitteln versucht, ihm jeden Status zu rauben. Ich frage mich, wie es wäre, wenn die Kinder dieses Volkes und die Gefangenen in den Kerkern mit diesem Bewusstsein ankämen? Wenn wir uns mit dieser Frage beschäftigen, werden wir die Situation in den Kerkern und die Situation, in der wir uns befinden, besser verstehen.“
„Sie wollen, dass wir ohne Würde leben“
Aktaş weiter: „Dieses illegale System hat uns zum Tode verurteilt. Sie haben die Isolation gegen Öcalan legalisiert und in Gesetze gegossen. Die faschistischen Machthaber wollten eine Strafe verhängen, die schlimmer ist als das Hängen. Das haben sie selbst gesagt. Natürlich berücksichtigten sie dabei nicht die Kreativität von Rêber Apos. Ihr Gesetz hat nichts gebracht und das apoistische Paradigma verbreitete sich in der ganzen Welt. So ein Gesetz konnte nur Rêber Apo überwinden. Das einzige Ziel dieses Systems ist es, die Gefangenen mit seinen Angriffen physisch und psychisch zu brechen. Sie wollen, dass du deine Sache aufgibst und ohne Würde lebst. Das System will alle menschlichen Werte zerstören.“
„Das genossenschaftliche Leben hält uns auf den Beinen“
Aktaş erklärte, dass der wichtigste Faktor, der die Gefangenen am Leben halte, die Genossenschaftlichkeit, die „Hevaltî“ sei und dass dafür große Opfer gebracht wurden. Aktaş sagte: „In diesem Leben gibt es keinen Platz für Nützlichkeitsdenken, Individualismus, Eifersucht, Lügen und Materialismus. In diesem Leben gibt es Glauben, Aufopferung, Arbeit und die Wärme der Liebe zueinander. In dieser genossenschaftlichen Lebensweise gibt es einen Gedanken, eine Sache und einen Geist. In einer solchen Zeit ist dieses bunte Leben ein Wunder. In einer unserer Diskussionen vor einigen Tagen sagte Kuday: ‚Unser größter Schutz ist unser Leben.‘ Diese Aussage machte für mich sehr viel Sinn. Denn Geist, Anliegen und Gedanken sind wichtig. Weil diejenigen, die für eine Sache eintreten, sind immer aufrecht. Der Feind kann dieses Leben nicht vernichten. Deshalb ist dieses Leben ein wichtiger Schutzschild. Das Leben ist für uns in jeder Hinsicht organisiert. Du liegst krank im Bett, aber es lässt nicht zu, dass du dich hängen lässt und nichts macht. Es zwingt uns zu lesen, zu forschen, ein organisiertes Bewusstsein zu entwickeln und den Prozess fortzusetzen. Das sind alles Dinge, die mit dem Leben verbunden sind.“
Aktaş bemerkte Folgendes: „Man könnte den Eindruck gewinnen, dass wir einander Füße, Hände und Augen sind, weil wir auf der Station alles gemeinsam machen. Vor ein paar Tagen bückte sich Serdal zum Beispiel, um einen Löffel vom Boden aufzuheben, und die Platine in seinem Rücken brach. Wir merkten das und klagten darüber. Später sagte Serdal: ‚Dieser Reflex hat meine Schmerzen gelindert.‘ Was ich damit sagen will, ist, dass wir sogar den Schmerz des anderen spüren und teilen. Wenn wir auf diese Weise leben, wird unser Schmerz erträglicher. Deshalb hängt meiner Meinung nach alles von diesem wundersamen Leben ab.“
„Der Mensch ist ein Gesellschaftswesen“
Aktaş wies darauf hin, dass der Mensch ein soziales Wesen sei und Solidarität brauche: „Auch wenn das System diesen Individualismus aufzwingt, wird er nicht erfolgreich sein. Es ist klar, dass wir uns nur dann gegen Unterdrückung wehren und unsere Rechte einfordern können, wenn wir die anderen Menschen mitnehmen und mit ihnen zusammenstehen. Vor kurzem hat sich Kudays Zustand wieder sehr verschlechtert. Wir riefen sofort die Anwälte der Vereinigung der Rechtsanwälte für die Freiheit (ÖHD) an, und sie kamen sofort. Wir haben ihnen erzählt, was passiert ist, und sie haben sofort gehandelt und seine Familie kontaktiert. Dann gaben sie eine Presseerklärung ab. An diesem Tag konnte ich ruhig schlafen, weil ich ihnen von Kudays Situation erzählt habe. Mit anderen Worten: Unterstützung ist etwas, das einem das Leben erleichtert und verlängert. Viele unserer Freunde im Kerker begleiten unser Leben mit Briefen. Auch das gibt unserem Leben einen Sinn. Diese Briefe sind auch ein Heilmittel für unsere Schmerzen, die durch unsere Krankheiten verursacht werden.“
„Ein Schritt zwischen uns und der Freiheit“
Aktaş betonte, dass es wichtig sei, sich gegen all die Arten von Angriffen auf die Gefangenen zu wehren und fügte an: „Aber wir müssen auch unser eigenes Potenzial erkennen. Dementsprechend müssen wir uns mit neuen Mitteln und Methoden im Sinne der Phase und der Bedingungen erneuern und unseren Kampf verstärken. Wir sind dem Erfolg sehr nahe. Das ist der Grund für die Zunahme der Angriffe. Es liegt ein Schritt zwischen uns und der Freiheit. Wir müssen diesen Schritt tun. Abschließend rufe ich alle auf: Der Zustand von Abdulkadir Kuday ist sehr schlecht, die gesellschaftliche Opposition sollte sich mehr auf ihn konzentrieren.“