Die Istanbuler Initiative der Samstagsmütter hat bei ihrer wöchentlichen Mahnwache gegen das „Verschwindenlassen“ in staatlichem Gewahrsam Gerechtigkeit für Ibrahim Demir und Agit Akipa gefordert. Beide Kurden wurden vor 32 Jahren in einem Dorf bei Hezex (tr. Idil) in der nordkurdischen Provinz Şirnex (Şırnak) von der türkischen Militärpolizei festgenommen. Einen Tag später fand man in einer Höhle ihre Leichen. Sie waren gefesselt, hatten verbundene Augen und wiesen Folterspuren auf. Die Täter wurden nicht zur Rechenschaft gezogen.
Es war die inzwischen 976. Mahnwache der Samstagsmütter, die seit Gründung der Initiative 1995 auf dem Galatasaray-Platz in der Istanbuler Innenstadt abgehalten wurde. Unter den Teilnehmenden befanden sich auch Deniz Demir und Fehim Akipa, Tochter beziehungsweise Sohn von Ibrahim Demir und Agit Akipa. Sie verurteilten in Reden den Unwillen des Staates, sich der eigenen Wahrheit zu stellen, die Mörder ihrer Väter preiszugeben. „Seit über drei Jahrzehnten warten wir darauf, dass uns Gerechtigkeit widerfährt“, sagte Demir. Die international renommierte Forensikerin und Menschenrechtsaktivistin Şebnem Korur Fincancı, die kürzlich von der türkischen Justiz ihres Amtes als Präsidentin des Türkischen Ärztebundes (TTB) enthoben wurde, unterstützte die Aktion.
Getötet wegen der Weigerung, dem Dorfschützersystem beizutreten
Gülseren Yoleri, Vorsitzende der Istanbuler Zweigstelle des Menschenrechtsvereins IHD, schilderte den Fall um das Verschwindenlassen von Ibrahim Demir (36) und Agit Akipa (39). Beide Männer lebten mit ihren Familien im Dorf Xenduk, dessen türkischer Name Çukurlu lautet. Akipa war Vorsteher des Dorfes. Es waren die frühen neunziger Jahre, in denen die „Spezialkriegsabteilung der türkischen Armee“ im Rahmen ihrer sogenannten Aufstandsbekämpfung das Dorfschützersystem intensiv ausbaute.
Dorfschützer sind paramilitärische Einheiten, die in Kurdistan gegen die Guerilla und unliebsame Oppositionelle eingesetzt werden. Sie bestehen zu einem beträchtlichen Teil aus Stammesführern, Großgrundbesitzern, Familien und Einzelpersonen, die oft schon seit Jahrzehnten mit dem Staat zusammenarbeiten und versuchen, in Kurdistan für die Interessen des Staates einzutreten. Ein Teil der Dorfschützer tritt diesem System freiwillig bei, andere werden mit Mord, Verhaftung und Vertreibung bedroht und müssen unter Druck Dorfschützer werden. Als historisches Vorbild der Dorfschützer gelten die Hamidiye-Regimenter im Osmanischen Reich. Das heutige Dorfschützersystem ist 1985 entstanden, ein Jahr nach dem Auftakt des bewaffneten Kampfes der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Damals begann die türkische Regierung unter Turgut Özal damit, kurdische Stämme und Clans im Krieg gegen die PKK anzuwerben und zu bewaffnen. Tausende kurdische Dörfer, die das Dorfschützersystem ablehnten, wurden in den 1990er Jahren vom Staat niedergebrannt und dem Erdboden gleichgemacht.
Nach Protest gegen Dorfbelagerung festgenommen
Ging es nach dem Militär, sollten sich auch die Bewohnerinnen und Bewohner von Xenduk als Dorfschützer betätigen. Es hatte bereits mehrfach eindringliche Ansagen gegeben, auch wurde Agit Akipa als Ortsvorsteher offen gedroht. Doch die Familien in Xenduk weigerten sich, dem Dorfschützersystem beizutreten. In den ersten Tagen des Dezembers im Jahr 1991 wurde die gesamte Ortschaft von der Militärpolizei besetzt. Die Dorfschule wurde in einen Stützpunkt verwandelt, mehrere Häuser der Bevölkerung beschlagnahmt. Agit Akipa und Ibrahim Demir machten sich auf den Weg nach Hezex und forderten bei Landrat und Innenministerium den Abzug der Soldaten aus dem Dorf. Daraufhin wurde der staatliche Druck noch stärker.
Am 12. Dezember 1991 wurde der Laster, in dem sich Akipa und Demir seit ihrem Rückweg aus der Kreisstadt Hezex aufhielten, vor dem Dorfeingang angehalten. Die zwei Männer wurden von Soldaten aus dem Fahrzeug gefischt und an einen unbekannten Ort gebracht. Als Familienangehörige bei der Militärpolizei Fragen zu ihrem Verbleib stellten, erklärte der zuständige Kommandant, Akipa und Demir noch nie gesehen zu haben. Doch ein Soldat gab den Familien heimlich den Hinweis, in den Höhlen eines nahegelegenen Gebirgsmassivs zu suchen. Am 13. Dezember 1991 wurden die Leichname von Ibrahim Demir und Agit Akipa in einer mit Steinen abgedeckten Höhle gefunden. Sie waren gefesselt worden und hatten verbundene Augen. Ihre Körper waren übersät mit Folterspuren.
Die Angehörigen von Ibrahim Demir und Agit Akipa erstatteten umgehend Anzeige. Der Staatsanwalt von Idil stellte daraufhin am 18. Dezember 1991 beim Landrat von Dargeçit (ku. Kerboran) den Antrag, Ermittlungen gegen den damaligen Kommandeur einer Infanteriekompanie der Gendarmerie sowie mehrere Soldaten und Unteroffiziere einzuleiten. Er erhob den Vorwurf des Totschlags gegen die Militärs. Das Landratsamt untersagte der Staatsanwaltschaft, gegen die Militärs zu ermitteln.
Tahir Elçi nimmt sich Fall an
2011 starteten die Hinterbliebenen einen neuen Versuch, den Fall vor Gericht zu bringen. Ihr Rechtsanwalt war Tahir Elçi, der später Vorsitzender der Anwaltskammer von Diyarbakır (Amed) wurde – und 2015 selbst von staatlichen Kräften ermordet wurde. Elçi erwirkte, dass die Staatsanwaltschaft Idil neue Untersuchungen einleitete und bei den zuständigen Behörden Akteneinsicht beantragte. Alle Institutionen teilten jedoch mit, dass Akten, Informationen oder Dokumente über die Tötung von Ibrahim Demir und Agit Akipa in ihren Archiven nicht auffindbar seien. Ein Ermittlungsverfahren gegen die Beamten beim Landratsamt Dargeçit wegen Amtsmissbrauch verlief wegen Verjährung im Sande.