Türkei: Gericht setzt Vorstand von Ärztebund ab

Eine Zivilkammer in Ankara hat den gesamten Zentralrat des türkischen Ärztebundes abgesetzt, Grundlage sind Terrorvorwürfe. Die Opposition spricht von einem Putsch gegen die demokratisch gewählten Vertreterinnen und Vertreter der Ärzteschaft.

Die türkische Justiz hat den gesamten Vorstand des Ärztebundes (TTB) abgesetzt. Eine Zivilkammer des Landgerichts Ankara befand am Donnerstag, dass alle elf Mitglieder des Zentralrats des Verbands türkischer Ärztinnen und Ärzte „terroristische Propaganda“ betrieben hätten und damit ein Verstoß gegen das Gesetz Nr. 6023 über die Zuständigkeiten und Aufgaben des TBB vorliegen würde. Sie seien somit nicht geeignet und nicht in der Lage, ihr Amt ordnungsgemäß auszuführen, hieß es. Das Gericht ernannte ein fünfköpfiges Gremium aus TTB-Mitgliedern für die Wahl eines neuen Vorstands. Die amtierenden Mitglieder des Zentralrats verbleiben bis zur Rechtskraft der Entscheidung im Amt.

TTB-Präsidentin bereits wegen „Terrorpropaganda“ verurteilt

Unter den Vorstandsmitgliedern des türkischen Ärztebundes, die nun ihrer Ämter enthoben wurden, befindet sich auch die TTB-Präsidentin Şebnem Korur Fincancı. Die international renommierte Forensikerin und Menschenrechtsaktivistin war im vergangenen Januar wegen angeblicher Verbreitung terroristischer Propaganda zu zwei Jahren und acht Monaten Haft verurteilt worden. Ihr wurde zur Last gelegt, eine unabhängige Untersuchung des Einsatzes chemischer Waffen durch die türkische Armee gegen die kurdische Guerilla gefordert zu haben. In der Folge sahen sich auch die übrigen Zentralratsmitglieder Gerichtsverfahren ausgesetzt, womit ihre Amtsenthebung abzusehen war. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan (AKP) und dessen rechtsextremer Koalitionspartner Devlet Bahçeli (MHP) streben inzwischen ein Gesetz an, das die Unabhängigkeit und Autonomie des TTB abschaffen soll.

Fincancı: Staatlicher Eingriff in die Strukturen der gewählten Ärzteschaft

Das Verfahren in Ankara wurde von zahlreichen Aktiven und Handelnden verschiedener Interessenverbände, NGOs und politischer Parteien beobachtet, darunter die HEDEP, EMEP und CHP. Şebnem Korur Fincancı sprach vor Gericht von einem staatlichen Eingriff in die Strukturen der gewählten Ärzteschaft und einer vom Palastregime in Ankara orchestrierten Zwangsentlassung des TTB-Vorstands. Die Anschuldigungen gegen die demokratisch gewählten Vertreterinnen und Vertreter des Verbands seien haltlos und gänzlich politisch motiviert. Sie dienten allein der Schwächung der Arbeit der ärztlichen Selbstverwaltung und der Abschaffung ihrer Unabhängigkeit als Ärztinnen und Ärzte, die ihre medizinische Berufsausübung in einem menschenrechtlichen und sozialen Kontext sähen. „Unsere Arbeit auf dem Gebiet der Gesundheitsrechte bildet das Rückgrat dieser Organisation. Aus diesem Grund befinden wir uns bereits seit Jahren unter dem rächenden Damoklesschwert der Justiz. Dieses Verfahren ist der jüngste in einer Reihe von Angriffen auf unabhängige medizinische und andere Berufe, deren Unabhängigkeit die Regierung als potenzielle Bedrohung sieht“, kritisierte Fincancı.

TTB für Regierung seit Langem unbequem

Tatsächlich ist der TTB spätestens seit 2015, als die Erdoğan-Regierung den Dialogprozess mit der PKK einseitig beendete und wieder überging zum totalen Krieg gegen die Kurdinnen und Kurden, Gegenstand zahlreicher gerichtlicher Schikanen, politisch motivierten Verfahren, Bürodurchsuchungen, Drohungen und Inhaftierungen auf der Grundlage der übermäßig weit gefassten Antiterrorgesetze der Türkei. So waren im Mai 2019 alle elf Mitglieder des damaligen Zentralrats zu Haftstrafen wegen „Anstachelung zum Hass und zur Feindschaft“ verurteilt worden. Sie hatten den Zorn von Erdoğan auf sich gezogen, weil sie die türkische Invasion 2018 im damaligen Kanton Efrîn in Nordsyrien kritisiert und in einer Erklärung den Krieg als „Problem der öffentlichen Gesundheit“ bezeichnet hatten. „Nein zum Krieg, Frieden jetzt“, hieß es in dem Appell, in dem vor „irreparablen Schäden“ gewarnt wurde. Erdoğan reagierte erbost und bezeichnete die Vorstandsmitglieder des TTB als „Terroristen-Liebhaber“. Sie seien „keine Intellektuellen, sondern eine Bande nicht denkender Sklaven“, das Wort „türkisch“ solle aus dem Namen des Verbands gestrichen werden. Auch als der TTB während der Pandemie dem türkischen Gesundheitsminister Fahrettin Koca vorwarf, er verschleiere systematisch das Ausmaß der Infektionen und melde der Öffentlichkeit und der Weltgesundheitsorganisation WHO geschönte Corona-Zahlen, bezeichnete Erdoğan die Vorsitzende Fincancı als „Terroristin“ und sprach von „unerträglichen Aktivitäten“ des Verbandes. 

HEDEP: Putsch zugunsten der Zwangsverwalter-Mentalität

Die HEDEP bezeichnete die Absetzung des TTB-Vorstands als „Putsch der Regierung“ durch die Hand der Justiz. Mit diesem Urteil hätte sich das Gericht über den Willen der Ärzteschaft hinweggesetzt und zugunsten der „Mentalität der Zwangsverwaltung“ entschieden, erklärte die Partei in einer Stellungnahme. „Es ist die Pflicht aller demokratischen Kräfte, sich diesem Putsch ohne Wenn und Aber entgegenzustellen. Wir stehen an der Seite des TTB“, hieß es weiter.