Şebnem Korur Fincancı zu Haftstrafe verurteilt

Die Ärztekammerpräsidentin Şebnem Korur Fincancı ist in Istanbul wegen ihrer Forderung nach einer Untersuchung der türkischen Chemiewaffeneinsätze in Kurdistan zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Gleichzeitig wurde der Haftbefehl aufgehoben.

Die Präsidentin der türkischen Ärztekammer, Prof. Dr. Şebnem Korur Fincancı, ist in Istanbul wegen „Terrorpropaganda“ zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und achteinhalb Monaten verurteilt worden. Gleichzeitig wurde der Haftbefehl gegen die renommierte Forensikerin aufgehoben.

Fincancı war im Oktober vergangenen Jahres verhaftet worden, weil sie sich in einem Fernsehinterview mit dem kurdischen Sender Medya Haber für eine unabhängige Untersuchung der Chemiewaffeneinsätze durch die türkische Armee in Kurdistan aussprach. In dem Interview hatte die weltweit bekannte Rechtsmedizinerin und Anti-Folter-Expertin erklärt, sie habe sich Aufnahmen von Opfern eines mutmaßlichen Chemiewaffenangriffs angesehen. Ihre Symptome deuteten offenbar darauf hin, dass die Personen – es handelte sich um zwei Guerillakämpfer:innen – einer toxisch wirkenden, gasförmigen Substanz ausgesetzt wurden. Die Vorwürfe, dass es sich dabei um Giftgas gehandelt haben könnte, müssten daher entsprechend internationalen Standards geprüft werden. Fincancı kritisierte in der Sendung auch, dass einer Delegation der ärztlichen Friedensorganisation IPPNW der Zugang in die von türkischen Chemiewaffeneinsätzen betroffenen Regionen verweigert wurde. Die türkische Generalstaatsanwaltschaft warf ihr deshalb „Propaganda für eine terroristische Organisation“ vor und forderte bis zu siebeneinhalb Jahre Freiheitsstrafe.

Internationale Prozessbeobachtung

Der Prozess hatte internationalen Protest hervorgerufen. Fünf Sonderberichterstatter:innen der UN hatten die Türkei bereits Anfang November aufgefordert, die verhaftete Präsidentin der Ärztekammer unverzüglich freizulassen und Antiterrorgesetze nicht als Mittel der Einschüchterung zu verwenden. Ähnlich äußerten sich IPPNW, der Weltärztebund und zahlreiche weitere Organisationen. Auch die deutsche Bundesärztekammer setzte sich für eine Freilassung von Fincanci ein. Deren Vorsitzender Klaus Reinhardt forderte die Einstellung des Verfahrens und sagte, dass Ärzte sich einmischen sollten, wenn der Verdacht auf Menschenrechtsverletzungen bestehe.

Fincancı: Niemand soll über Chemiewaffen sprechen können

Die heutige Verhandlung wurde von zahlreichen Personen aus dem In- und Ausland beobachtet. Weil der Gerichtssaal zu klein war, blieben Dutzende Menschen vor der Tür. Fincancı sagte in der Verhandlung, dass die große Solidarität sie glücklich mache: „Das mitzuerleben, ist sehr wertvoll. Wie auch immer das Urteil ausfällt, wichtig sind das Zusammengehörigkeitsgefühl, das Bewusstsein und das kollektive Dasein.“ Die Ärztekammer (TTB) sei genau aus diesem Grund mit verfassungsrechtlicher Garantie vor siebzig Jahren gegründet worden, erklärte Fincancı: „In diesem Jahr werden wir die gesetzliche Gründung vor siebzig Jahren feiern. Mit diesem Prozess soll ein Klima der Angst geschaffen werden, das einem Verbot der Freiheit des Ausdrucks, der Gedanken und der Wissenschaft gleichkommt. Aber dieser Versuch ist umsonst. Angst nützt niemandem. Die TTB ist unsere Organisation. Wenn niemand mehr das Wort Chemiewaffe in den Mund nehmen kann, ist das ein Anzeichen für das entstandene Klima der Angst.“

Şebnem Korur Fincancı: Eine mutige Medizinerin und Menschenrechtlerin

Şebnem Korur Fincancı ist 1959 in Istanbul geboren. Sie ist eine renommierte Forensikerin und Vorsitzende des türkischen Ärzteverbands (TTB) sowie Vorstandsmitglied der Menschenrechtsstiftung in der Türkei (TIHV). 2018 wurde ihr der Hessische Friedenspreis verliehen. Vor ihrer Verhaftung sprach sie auf der Konferenz der Betroffenen in Köln über die Situation der Menschenrechte in der Türkei. Trotz einer gegen sie angezettelten Lynchkampagne wegen ihrer Forderung nach einer unabhängigen Untersuchung der Chemiewaffenangriffe durch die türkische Armee kehrte sie anschließend zurück nach Istanbul und wurde verhaftet. Zuvor hatte sie der Generalstaatsanwaltschaft Ankara über ihren Rechtsbeistand mitteilen lassen, in dem gegen sie eingeleiteten Strafverfahren zu einer Aussage bereit zu sein. In großem Ausmaß ist es ihrem Mut zu verdanken, dass die türkischen Kriegsverbrechen in Kurdistan international thematisiert wurden.