In Istanbul ist der Prozess gegen Şebnem Korur Fincancı fortgesetzt worden. Die Präsidentin der türkischen Ärztevereinigung TTB befindet sich seit Ende Oktober in Untersuchungshaft, weil sie sich in einem Fernsehinterview mit dem kurdischen Sender Medya Haber für eine unabhängige Untersuchung der Chemiewaffeneinsätze durch die türkische Armee in Kurdistan aussprach. In dem Interview hatte die angesehene Rechtsmedizinerin und Anti-Folter-Expertin erklärt, sie habe sich Aufnahmen von Opfern eines mutmaßlichen Chemiewaffenangriffs angesehen. Ihre Symptome deuteten offenbar darauf hin, dass die Personen – es handelte sich um zwei Guerillakämpfer:innen – einer toxisch wirkenden, gasförmigen Substanz ausgesetzt wurden. Die Vorwürfe, dass es sich dabei um Giftgas gehandelt haben könnte, müssten daher entsprechend internationalen Standards geprüft werden. Die Generalstaatsanwaltschaft wirft Fincancı deshalb „Propaganda für eine terroristische Organisation“ vor und fordert bis zu siebeneinhalb Jahre Freiheitsstrafe.
Wie beim Prozessauftakt am vergangenen Freitag wurde der Justizpalast Çağlayan von Polizeieinheiten belagert. Die Verhandlung vor der 24. Kammer für schwere Straftaten wurde von Parlamentsabgeordneten der HDP und CHP, Ärztinnen und Ärzten, der Vereinigung der Rechtsanwaltskammern der Türkei (TBB) sowie lokalen wie internationalen Menschenrechtsorganisationen beobachtet.
Fincancı wiederholt Forderung nach Untersuchung
Fincancı wies die Anschuldigung gegen sie in der Verhandlung erneut zurück. Ihre Stellungnahme stelle keine Straftat dar und sei vielmehr ihre Aufgabe als Bürgerin und Medizinerin. Aus diesem Grund wolle sie sich auch nicht verteidigen, sondern lediglich zum Sachverhalt äußern. Die Anklageschrift sei unwissenschaftlich und ganz offensichtlich auf politischen Befehl erfolgt. „Außerdem wird so getan, als ob ich die gefährlichste Angeklagte des Landes oder sogar auf der ganzen Welt bin“, sagte Fincancı und wiederholte ihre Forderung nach einer unabhängigen Untersuchung der Vorwürfe durch Chemiewaffenexpert:innen im Kriegsgebiet.
Der türkische Staatspräsident Tayyip Erdogan persönlich habe sie als „Mitglied einer Terrororganisation“ angegriffen, sagte Fincancı weiter: „Wenn ich eine Terroristin sein soll, würde ich gerne wissen, von welcher Organisation. Etwa von der Menschenrechtsstiftung der Türkei? Oder von einem anderen Verein? Wenn der Präsident so etwas sagt, wie soll die Justiz davon abweichen?“
TTB soll als „terroristische Organisation“ verboten werden
Das Ziel der Hetzkampagne und ihrer Verhaftung sei letztendlich auch das Verbot der TTB, erklärte Fincancı und wies auf das gegen den gesamten Vorstand der Ärztevereinigung eingeleitete Verfahren wegen „Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation“ hin. Die TTB sei jedoch eine der vertrauenswürdigsten Institutionen in der Türkei. „Sie wollen mich und die TTB loswerden, aber das wird ihnen nicht gelingen. Ich weiß nicht, ob sie die Todesstrafe wieder einführen wollen, aber wir haben keine Angst. Das wissen sie, aber sie wollen die Gesellschaft einschüchtern. Wo auch immer wir sind, wir werden unseren Kampf fortsetzen“, so die international bekannte Forensikerin und Menschenrechtsaktivistin.
Die Verhandlung wurde auf den 11. Januar 2023 vertagt.