Nacho Sánchez Amor unterstützt Mahnwache der Samstagsmütter

Die Istanbuler Samstagsmütter haben zum 975. Mal Aufklärung über ihre in staatlichem Gewahrsam „verschwundenen“ Angehörigen und eine Bestrafung der Täter gefordert. Unterstützt wurden sie dabei vom sozialdemokratischen EU-Abgeordneten Nacho Sánchez Amor.

Die Istanbuler Samstagsmütter haben zum 975. Mal Aufklärung über ihre in staatlichem Gewahrsam „verschwundenen“ Angehörigen und eine Bestrafung der Täter gefordert. Begleitet von zahlreichen Unterstützenden, unter denen sich auch der sozialdemokratische EU-Abgeordnete Nacho Sánchez Amor befand, der zugleich der Delegation im Gemischten Parlamentarischen Ausschuss EU-Türkei angehört und Türkei-Berichterstatter des Europäischen Parlaments ist, thematisierte die Initiative bei der Mahnwache am abgesperrten Galatasaray-Platz den Fall von Hüseyin Taşkaya, der seit seiner Festnahme 1993 in Sêwreg (tr. Siverek) nie wieder aufgetaucht ist.

Arcan: Staat muss für Gerechtigkeit sorgen

Vorgetragen wurde der Fall von Sebla Arcan. Die Aktivistin, die Teil der Gefängniskommission des Menschenrechtsvereins IHD ist, zeichnete zunächst einen kurzen Umriss der Historie der Praxis des Verschwindenlassens in staatlichem Gewahrsam und des juristischen Kampfes zur Ermittlung der Täter und ihrer Ahndung. „Wir sind hier, weil die Erinnerung an das, was die Regierungen uns vergessen machen wollen, ein wichtiger Teil der Vergangenheitsbewältigung, der Demokratisierung, der Hinwendung zu Recht und Menschenrechten ist. Unser Beharren darauf, nicht zu vergessen, ist auch eine Forderung nach einem demokratischen Rechtsstaat und den Menschenrechten. Wir fordern den Staat auf, unser Recht auf Wahrheit und den Zugang zur Justiz nicht länger zu verletzen. Erfüllen Sie Ihre Verpflichtung, wirksame Ermittlungen und Strafverfolgungen durchzuführen, die das Schicksal unserer Verschwundenen aufdecken und für Gerechtigkeit sorgen.“

 


Von Polizei, Militär und Bucak-Clan verschleppt

Über den Fall von Hüseyin Taşkaya berichtete Arcan, dass der damals 42-jährige kurdische Unternehmer am 6. Dezember 1993 in Sêwreg von einem Trupp Polizisten, Soldaten und staatstreuen Milizionären unter Befehl eines Armeeoffiziers aus dem Haus seines Onkels geholt wurde, bevor er spurlos verschwand. Die Stadt in der Provinz Riha (Urfa) stand damals vollkommen unter der Herrschaft des Bucak-Clans, der vom DYP-Abgeordneten, Stammesführer und Dorfschützerchef Sedat Bucak geleitet wurde – schwere Rechtsverletzungen gehörten zum Alltag. Taşkaya, Vater von vier Kindern, stand auf einer Todesliste. Der Bauunternehmer, der eine angesehene Persönlichkeit in seinem Umfeld war, geriet ins Visier der Sicherheitskräfte und des Bucak-Clans, weil er den Terror der Dorfschützer und die Verbrechen staatlicher Kräfte anprangerte. Die Familie von Hüseyin Taşkaya fragte bei der Militärpolizei, der Polizeidirektion, der Staatsanwaltschaft und dem Gouverneur nach seinem Verbleib. Das Militär behauptete, er sei von der Polizei weggebracht worden. Die Polizei hingegen sagte: „Bei uns ist er nicht, fragt Sedat Bucak.“ Der Dorfschützerchef wiederum behauptete, Hüseyin Taşkaya sei dem Staat übergeben worden. Die Staatsanwaltschaft stellte in Frage, dass eine Festnahme überhaupt stattgefunden habe. Das Verfahren wurde eingestellt. Alle Anträge der Familie verliefen ergebnislos. Seitdem wird Hüseyin Taşkaya vermisst.

Unter den Teilnehmenden der heutigen Aktion der Samstagsmütter war erstmals seit mehr als fünf Jahren auch wieder Emine Ocak (im Rollstuhl). Die 87-Jährige gilt als Symbol der Initiative und gehörte bei der 700. Aktion im Sommer 2018 zu der Gruppe, die massive Gewalt durch die Polizei erfuhr und in der Folge angeklagt wurde. Emine Ocak ist zudem die Initiatorin der Mahnwachen der Samstagsmütter. Als sie am 27. Mai 1995 zum ersten Mal auf dem Galatasaray-Platz demonstrierte, war ihr Sohn bereits tot. Hasan Ocak, Gymnasiallehrer, gebürtig aus Dersim, war 30 Jahre alt und betrieb in Istanbul eine Teestube, als er am 21. März 1995 während Unruhen in Gazi festgenommen wurde. Nach seinem Verschwinden wurde sein Leichnam in einem Waldgebiet abgeworfen und später auf einem „Friedhof für Namenlose“ entdeckt. Das Ergebnis der Autopsie zeigte deutlich, dass er durch einen Strick um den Hals ermordet wurde. Sein Körper wies zudem Verbrennungen durch Strom und Schnitte im Gesicht auf. Hasan Ocak wurde in der „Obhut“ des türkischen Staates zu Tode gefoltert. Die Sitzaktion von Emine Ocak war der erste Schritt, um den Protest gegen die Praxis des „Verschwindenlassens” öffentlich zu machen und neue Fälle von „Verschwundenen” zu verhindern. Der Familie schlossen sich Angehörige weiterer Vermisster an.


Sánchez Amor kritisiert türkische Sicherheitsbehörden

Nachdem rote Nelken für Hüseyin Taşkaya auf dem Galatasaray-Platz abgelegt wurden, zogen die Samstagsmütter und ihre Unterstützenden weiter in das Büro des IHD und gaben eine Presseerklärung ab. Nacho Sánchez Amor erklärte sich solidarisch mit den Samstagsmüttern und ihrem Kampf um Gerechtigkeit für die Verschwundenen und gab an, zur Beobachtung der menschenrechtlichen Lage in Istanbul zu sein. „Die Forderungen der Samstagsmütter, nach dem Schicksal ihrer verschwundenen Angehörigen zu fragen und die Täter vor Gericht zu stellen, sind legitim“, sagte der EU-Abgeordnete und kritisierte das große Polizeiaufgebot bei der Mahnwache der Initiative. Außerdem bemängelte Sánchez Amor, dass die Sicherheitsbehörden den Galatasaray-Platz entgegen einem Urteil des türkischen Verfassungsgerichts über einen langen Zeitraum nicht freigegeben haben. „Die Entscheidung des höchsten Gerichts der Türkei ist lobenswert. Doch leider haben sich türkische Sicherheitsbehörden über das Grundgesetz hinweggesetzt und dieses wichtige Urteil des Verfassungsgerichts für nichtig erklärt.“

Galatasaray-Platz über fünf Jahre rechtswidrig Sperrzone

Seit einem vom Innenministerium angeordneten Großangriff auf die Samstagsmütter im Sommer 2018 war der Galatasaray-Platz für die Gruppe eine Sperrzone. Dies aber stand im Widerspruch zum Recht auf Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit, urteilte der türkische Verfassungsgerichtshof am 22. Februar 2023 und verwarf den Einwand des Ministeriums, das den „Schutz der öffentlichen Ordnung“ durch die Samstagsmütter bedroht sieht. „Jedermann hat das Recht, ohne vorherige Erlaubnis an unbewaffneten und friedlichen Versammlungen und Demonstrationen teilzunehmen“, heißt es in Artikel 34 der türkischen Verfassung, gegen den die Sicherheitsbehörden mit ihrer Verbotsverfügung für die gewaltsam aufgelöste Aktion der Samstagsmütter im August 2018 und alle folgenden verstoßen haben. Die Blockade des Platzes sei damit hinfällig. Das Innenministerium und die Zentralbehörde der türkischen Polizei ignorierten das Urteil über Monate und verhinderten seit Anfang April wieder Woche für Woche, dass sich die Initiative auf ihrem angestammten Platz versammeln konnte. Erst seit dem 11. November können sich die Samstagsmütter wieder auf dem Galatasaray-Platz treffen.

Nacho Sánchez Amor (m.) bei der Pressekonferenz im IHD-Büro

„Solange in der Türkei Zustände herrschen, in denen Grundrechte in den Händen der Polizei liegen, wird sie kein Land sein, das respektiert wird“, sagte Nacho Sánchez Amor. Er sei unglaublich froh, sich an einer Mahnwache der Samstagsmütter beteiligt zu haben. „Denn sie sind ein eindrucksvolles Beispiel dafür, was es bedeutet, Bürgerin bzw. Bürger zu sein. Es gibt gravierende Rechtsverletzungen in der Türkei, aber ich habe mich für die Samstagsmütter entschieden, weil sie so wichtig sind. Ich habe mich auf die Seite der Samstagsmütter gestellt, weil sie den unbedingten Willen gezeigt haben, die demokratischen Rechte zu wahren. Die Samstagsmütter zu verteidigen bedeutet, die Menschenrechte zu verteidigen. Die Teilnahme an ihren Protesten ist etwas, das ich auch in Zukunft tun möchte. Ich bin für Ihre Rechte da.“

Es ist notwendig, sich an den EGMR zu wenden

Von Presseleuten auf die Festnahmen der Samstagsmütter und solidarischer Menschen in den letzten Monaten bei den Mahnwachen am Galatasaray-Platz angesprochen, die mit angeblichen Verstößen gegen Versammlungsverbote begründet worden waren, die das örtliche Landratsamt angeordnet hatte, sagte Sánchez Amor: „Es ist notwendig, sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu wenden. Man kann sich mit seiner Armee und seinen Soldaten brüsten, so viel man will, aber wenn ein Polizist die Urteile des Verfassungsgerichts nicht anerkennt und sagt, er sei der Entscheidungsträger, dann liegen die Menschenrechte in diesem Land am Boden.“