Naime Özer hat auf den schlechten Gesundheitszustand ihrer vor über zwei Monaten in Wan verhafteten Eltern hingewiesen. Ihre Eltern Makbule und Hadi Özer hätten sich bereits vor ihrer Verhaftung kaum noch selbst versorgen können, sie müssten sofort freigelassen werden.
Die achtzigjährige Makbule Özer und ihr ein Jahr jüngerer Ehemann Hadi sind am 9. Mai in Wan verhaftet worden. Grundlage war ein im Februar dieses Jahres bestätigtes Urteil über 25 Monate Freiheitsstrafe wegen „Unterstützung einer Terrororganisation“ – gemeint ist die PKK. Das Urteil steht im Zusammenhang mit einer vermuteten extralegalen Hinrichtung an zwei YPS-Mitgliedern im Juli 2018, die sich vor ihrem Tod ein Gefecht mit der türkischen Polizei geliefert hatten. Der Vorfall trug sich in 45 Kilometern Entfernung zum Wohnort von den Özers zu, dennoch wurden sie damals wegen angeblicher Unterstützung für die beiden YPS-Kämpfer vorübergehend festgenommen.
Naime Özer sagt, dass ihre Eltern aufgrund ihres hohen Alters und diverser Erkrankungen haftunfähig sind. Ihre Mutter könne kaum laufen und sei vor ihrer Verhaftung wegen Osteoporose, erhöhtem Cholesterinspiegel und Diabetes in medizinischer Behandlung gewesen. „Wegen ihrer chronischen Erkrankungen muss sie auf ihre Diät achten. Seit sie im Gefängnis ist, leidet sie auch unter Bluthochdruck und Herzbeschwerden. Mein Vater hat eine Augenerkrankung und Asthma. Bei beiden zittern inzwischen die Hände“, berichtet die besorgte Tochter.
Makbule Özer hat Anfang Juli einen Schwächeanfall im Gefängnis erlitten und sich bei dem Sturz den Arm gebrochen. „Sie war danach eine Nacht in stationärer Behandlung. Seitdem bekommt sie zweimal täglich Infusionen in der Krankenstation. Meine Mutter und mein Vater hatten selbst zu Hause Schwierigkeiten, sich selbst zu versorgen. Sie sind seit siebzig Tagen inhaftiert und es geht ihnen sehr schlecht im Gefängnis. Wenn sie noch länger dort bleiben, wird sich ihr Gesundheitszustand noch mehr verschlechtern“, so Naime Özer.
Hintergrund: Warum wurden Makbule und Hadi Özer verhaftet?
23. Juli 2018: Im Kreis Ertemêtan (tr. Edremit) stürmen Antiterroreinheiten der türkischen Polizei das Haus von Makbule und Hadi Özer. Siebzehn Personen halten sich zu dem Zeitpunkt dort auf, darunter vier Minderjährige. Das ältere Ehepaar sowie drei Familienmitglieder und eine Bekannte werden rund drei Stunden von den Beamten terrorisiert, beleidigt, geschlagen und bedroht. Anschließend werden sie festgenommen und zwei Tage lang in Polizeihaft verhört. Am 26. Juli findet die Überstellung an die zuständige Staatsanwaltschaft statt. Şükran Yıldız, die am Tag der Razzia zu Besuch bei den Özers war, wird wegen vermeintlicher PKK-Mitgliedschaft verhaftet. Makbule, Hadi, Medeni, Übeydullah und Emrullah Özer werden freigelassen.
Hintergrund der Razzia ist ein Vorfall, der sich eine gute Woche zuvor im 45 Kilometer nordöstlich liegenden Stadtbezirk Rêya Armûşê (Ipekyolu) zugetragen hat. In der Nacht auf den 15. Juli 2018 führten paramilitärische Spezialeinheiten der türkischen Polizei eine Operation in einem Haus in der Yalım-Erez-Straße durch. Dort hatten sich zwei YPS-Mitglieder (Zivile Verteidigungseinheiten) verbarrikadiert. Erst später wurde bekannt, dass es sich um Metin Ünalmış (Numan Serhat) und Bilal Şimşek (Serhıldan Ararat) handelte. Beide Kämpfer lieferten sich zunächst ein Gefecht mit den Operationseinheiten. Die YPS nannten zwei Tote und sechs Verletzte bei der Polizei, der türkische Gouverneur sprach lediglich von drei verwundeten Beamten. Tot seien nur die beiden Personen, „die eine illegale Aktion vorbereitet“ hätten.
Anwohnende erklärten damals zu den Geschehnissen: „Um etwa 0.00 Uhr wurde das Viertel mit Dutzenden von Fahrzeugen abgesperrt. Gegen 0.20 Uhr waren zuerst zwei Schüsse zu hören. Dann war es eine Stunde still. Darauf folgten Schüsse und zwei Explosionen. Danach rissen die Schüsse bis 5.00 Uhr morgens nicht ab. Gegen 6.00 Uhr zog die Polizei mit ihren Panzern aus dem Viertel ab.“ Menschenrechtsorganisationen hatten die Vermutung geäußert, dass Metin Ünalmış und Bilal Şimşek möglicherweise Opfer von extralegalen Hinrichtungen geworden sind, als ihre Munition ausging.
Noch in derselben Nacht war es zu mehreren Festnahmen gekommen. Damals traf es die Familie Şahin, die ganz in der Nähe des Tatortes wohnte. Mit Panzern wälzten Beamte den Gartenzaun ihres Hauses nieder und misshandelten die Familie – auch zwei 16-Jährige. Auf dem Polizeirevier wurde die Tortur fortgesetzt. Nur vier Tage später wurden sechs Familienmitglieder in Untersuchungshaft genommen. Auch hier lautete der Vorwurf auf PKK-Unterstützung, konkret ging es um die YPS-Kämpfer, denen geholfen worden sein soll. Hinzu kamen Beschuldigungen wie „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ und „Beamtenbeleidigung“. Die Folter setzte sich im Gefängnis fort, neben Schlägen und Tritten wurden die Betroffenen entwürdigenden Nacktdurchsuchungen unterzogen. Erst Ende 2019 konnten alle verhafteten Personen aus der Familie Şahin das Gefängnis verlassen. Die Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens gegen 66 beteiligte „Folterer“ bei der türkischen Polizei wurde mit dem Veto des Provinzgouverneurs unterbunden.