Der Protest gegen den Rückzug Erdoğans aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen vor Gewalt dauert an. Täglich gehen Frauen auf die Straße und protestieren. Trotz der permanenten Repression finden kritische Diskussionen statt. Juristinnen und Juristen weisen darauf hin, dass Erdoğan nicht über die Kompetenz für einen Rückzug aus der Istanbul-Konvention verfüge.
Mit dem Beginn der Agitation des Regimes für einen Rückzug aus der Istanbul-Konvention begann eine Zunahme der Gewalt gegen Frauen. Es wird befürchtet, dass sich dieser Trend nach dem Rückzug aus der Konvention noch weiter verstärken werde. Innerhalb kürzester Zeit nach dem Austritt wurde Seda Kayadelen von ihrem Ehemann Emrah Kayadelen erstochen und in Kayseri wurde eine mit 15 Messerstichen ermordete unbekannte Frau gefunden.
Obwohl die Konvention hauptsächlich als Mittel der Prävention von Gewalt gegen Frauen betrachtet wird, ist sie auch wichtig in Bezug auf Kinderrechte. Wie werden die Rechte von Kindern, die wirtschaftlichem, sexuellem und psychologischem Missbrauch ausgesetzt sind, durch dieses Abkommen geschützt? Melek Nur Ramazanoğlu, Mitglied der Kinderkommission des Menschenrechtsvereins (IHD), erklärt im ANF-Gespräch, was der Rückzug der Türkei aus der Konvention für die Kinder bedeutet.
„Hauptverpflichtung der Staaten: Kinder vor Gewalt schützen“
Ramazonoğlu betont, dass die Konvention für Kinder ebenso überlebenswichtig ist, wie für Frauen. Sie sagt: „Die Daten zeigen, dass der größte Teil der Gewalt gegen Frauen in den eigenen vier Wänden stattfindet und die Täter im allgemeinen den Opfern nahestehen. Die Kinder erleben diese Gewalt, werden durch sie geprägt und zu ihren Opfern. Der Schutz von Kindern vor Gewalt gehört zu den Hauptverpflichtungen von Staaten, das Abkommen ist mit Punkten in dieser Hinsicht angereichert.“
„Das Abkommen verankert die Gleichberechtigung im Bewusstsein der Kinder“
Die Menschenrechtlerin betont, die Konvention sei viel mehr als eine Sammlung von juristischen Regelungen. Das Abkommen stellt auch einen wichtigen Einfluss auf die Sicht der Gesellschaften der Unterzeichnerstaaten auf Frauen und Familie dar. Sie führt aus: „Die positive Wahrnehmung, die die Konvention in Bezug auf die Gleichstellung von Frauen und Männern schafft, und die Perspektive, dass Gewalt eine Situation ist, die verhindert werden muss, stellt sicher, dass Kinder in ihrem gegenwärtigen und zukünftigen Leben ein auf Menschenrechten basierendes Bewusstsein von Gleichberechtigung, unabhängig des Geschlechts, entwickeln.“
„Ohne Konvention werden Kinder länger Opfer von Gewalt“
Ramazanoğlu betont, die Konvention habe mittelbaren und unmittelbaren positiven Einfluss auf das Leben von Kindern: „Wenn ich von direkten Auswirkungen spreche, dann meine ich, dass der Vertrag eine der entscheidenden Quellen darstellt, um innerhalb des Rechtssystems dringende Maßnahmen gegen häusliche Gewalt zu ergreifen. Die Schutzmaßnahmen, die bei einem Gewaltvorfall unverzüglich umgesetzt werden müssen, sollen sicherstellen, dass Kinder aus dem gewalttätigen Umfeld, dem sie ausgesetzt sind, befreit werden. Ein solches Umfeld kann nachhaltige Auswirkungen auf das Leben von Kindern haben. Wenn die Konvention nicht umgesetzt wird, werden die Schutzbereiche, die Kindern, die einem gewalttätigen Umfeld ausgesetzt sind, zur Verfügung stehen, eingeschränkt, damit wird ihre Gewaltexposition verlängert und sogar die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sie primäre Opfer von Gewalt werden. Dies führt dazu, dass die Kinder in einem vollkommen unsicheren Familienumfeld ohne Schutz aufwachsen. Es scheint, dass der Staat beabsichtigt, mit seinem Rückzug aus dem Abkommen ein Hindernis für den Schutz von Frauen und Kindern zu schaffen. Dieser Schutz ist eigentlich eine primäre Verpflichtung des Staates. Der Ausstieg aus dem Übereinkommen, das Klauseln enthält, die die Anwendbarkeit der Rechte von Kindern im Rahmen der Menschenrechte stärken, entfernt Kinder einen weiteren Schritt vom Zugang zu ihren Rechten. Um Rechtsverletzungen zu verhindern, die infolge solcher Mängel auftreten, sollte der Rückzug aus der Konvention sofort gestoppt werden und es sollten ernsthafte Anstrengungen zur Umsetzung der Konvention unternommen werden.“
„Rückzug führt zu irreparablen Schaden“
Ramazoğlu fährt fort: „Die Menschenrechte sollten immer die Basis bilden. Wir wissen, dass Rechtstexte und das Funktionieren des Justizsystems die Entwicklung der Gesellschaft erheblich beeinflussen.“ Sie warnt vor einer gravierenden Verschlechterung des gesellschaftlichen Klimas: „Der Rückzug aus diesem Abkommen, das vollständig auf der Grundlage der Menschenrechte erstellt wurde und erhebliche Auswirkungen auf das Leben von Kindern hat, wird zu einem irreparablen Bewusstseinswandel führen. Der Rückzug wird zu einem Bewusstsein führen, in dem der Schutz von Frauen vor Gewalt und Geschlechtergleichstellung keine Rolle mehr spielen, und das die Gesellschaft in Ungleichhalt aufwachsen lässt.“
„Kampf geht weiter“
Sie schließt mit den Worten: „Leider hören wir immer wieder Erklärungen von Regierungsvertretern, die sogar sexualisierte Gewalt rechtfertigen. Insbesondere wenn wir uns an die Anfänge der Diskussionen um die Istanbul-Konvention erinnern, dann müssen wir an die jeglichem Recht und Wissen fernstehenden Forderungen denken, die juristische Festsetzung des Mindestalters für eine Eheschließung zu senken. Dies ist Ausdruck einer Mentalität, die sich generell nicht um Menschenrechte kümmert. Der Ausstieg aus der Konvention ist eine Folge dieser Mentalität. Wir dürfen uns dieser Mentalität nicht anschließen, wir müssen sie missachten und unseren Kampf auf der Grundlage von Menschenrechten fortsetzen.“