In der Türkei sind im zurückliegenden Monat mindestens 28 Frauen von Männern ermordet worden. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Bilanz der Istanbuler Plattform gegen Frauenmorde (Kadın Cinayetlerini Durduracağız Platformu, KCDP). Die Organisation befürchtet allerdings, dass die Dunkelziffer der Femizide weitaus höher ist. Denn weitere 19 Frauen sind im März unter verdächtigen Umständen ums Leben gekommen. Die Erfahrung zeige, dass Täter oft Szenen konstruierten, um Femizid als Selbstmord, Unfall oder natürlichen Tod aussehen zu lassen. Insbesondere seit Ausbruch der Corona-Pandemie erfasse die KCDP einen deutlichen Anstieg von verdächtigen Todesfällen. Deshalb fordert die Organisation eine sorgfältige Aufklärung. Zudem verlangen die Aktivistinnen der Plattform von der Regierung, die Entscheidung zum Austritt aus der internationalen Istanbul-Konvention gegen Gewalt an Frauen zurückzuziehen und den Vertrag einzuhalten. Per Präsidialdekret ist die Türkei vor zwei Wochen aus dem völkerrechtlichen Übereinkommen zurückgetreten. Bis zum Ultimo wurden seitdem zwölf Frauen von Männern ermordet.
Die Motive
Wie aus der Bilanz hervorgeht, konnten in 20 Fällen die Hintergründe der Femizide nicht ermittelt werden. Eine Frau wurde unter ökonomischen Vorwänden getötet, sieben weitere wollten sich entweder scheiden lassen, verweigerten eine Beziehung mit ihren Mördern oder lehnten eine Versöhnung mit ihren Partnern ab. „Sie wurden ermordet, weil sie selbst über ihr Schicksal bestimmen wollten”, heißt es in dem Bericht. Dass die Motive in zwanzig Mordfällen unklar sind, macht die Plattform daran fest, dass patriarchale Gewalt und Frauenmorde in der Türkei unsichtbar gemacht werden: „Solange nicht festgestellt wird, von wem und warum Frauen ermordet werden, solange es keine fairen Gerichtsverfahren gibt, die Täter keine abschreckenden Strafen erhalten und keine vorbeugenden Maßnahmen angewendet werden, wird die Gewalt weitergehen.“
Die Mörder
Dreizehn der im März ermordeten Frauen wurden von ihren Ehemännern getötet, drei von Lebensgefährten, vier von männlichen Bekannten, drei von Ex-Männern, zwei von entfernten Verwandten, zwei von ihren Brüdern und eine weitere von einem ehemaligen Partner.
Die Tatorte
Am häufigsten sind Frauen im letzten Monat in ihrem eigenen Zuhause ermordet worden. Insgesamt 18 Frauen wurden in ihren eigenen vier Wänden getötet, sechs Femizide trugen sich auf der Straße zu und je eine Frau wurde in einer abgelegenen Gegend, auf einem Feld, in einem Auto und in einem Park ermordet.
Die Mordwaffen
Als Mordwaffen kamen in 14 Fällen Schusswaffen und in neun Fällen Messer zum Einsatz. Drei Frauen wurden erwürgt, eine weitere Frau ist bei lebendigem Leib verbrannt worden. In einem Fall ist unklar, auf welche Weise das Opfer getötet wurde.
Anstieg von Angriffen auf LGBTIQ+
In ihrer Bilanz weisen die Frauen von KCDP auch auf eine Zunahme von Anfeindungen und Angriffen gegen Mitglieder der LGBTIQ-Community hin. Die Organisation führt den Anstieg von den teils tödlichen Übergriffen gegen lesbische, schwule, bisexuelle, trans, inter und queere Menschen auf die homophobe Polarisierungspolitik der Regierung zurück, die gezielt diskriminiere und ein feindseliges Klima schüre. Ab Juli hatte sich die von konservativ-islamistischen Kreisen angestoßene Diskussion um einen Ausstieg aus der Istanbul-Konvention intensiviert, weil sie „familienfeindlich“ sei, traditionelle Werte untergrabe und Homosexualität fördere.
„Nun hat sich die Regierung auf diesen Diskurs festgelegt. Durch die Diskriminierung von LGBTIQ+ verfolgt sie eine Politik der Polarisierung der Gesellschaft, um den Rückzug aus der Konvention zu legitimieren“, kritisiert KCDP und macht auf einen besonders brutalen Mord in Izmir aufmerksam: Im Februar verschwand dort die Transfrau Mira Güneş spurlos. Seit gut zwei Wochen gibt es Gewissheit, dass sie getötet wurde. Der vorläufige Autopsiebericht ergab, dass sie mit einem harten Gegenstand erschlagen worden ist, bevor ihr Gesicht bis zur Unkenntlichkeit entstellt wurde. Vergangene Woche sorgte dann ein Video von einem Mann namens Firat Kaya, der vor laufender Kamera einen Gehörlosen folterte, weil er homosexuell sei, für Entsetzen in der Türkei.