Kaum hat die Türkei die Istanbul-Konvention gegen Gewalt an Frauen per Präsidialdekret aufgekündigt, da wettert dieselbe reaktionär-islamistische Lobby, die schon den Rückzug aus dem völkerrechtlichen Abkommen ins Spiel gebracht hatte, gegen das Gesetz Nummer 6284. Durch das in enger Kooperation mit Frauenrechtsorganisationen verfasste und durch die Istanbul-Konvention 2012 eingeführte „Gesetz über den Schutz der Familie und die Verhütung der Gewalt an Frauen” sollen alle Frauen unabhängig ihres Zivilstandes vor geschlechtsspezifischer Gewalt geschützt und Täter sanktioniert werden. Die Regelung enthält theoretisch weitgreifende Maßnahmen: Einerseits hat die Polizei dadurch eine rechtliche Grundlage für Zugriffe bei häuslicher Gewalt. Andererseits garantiert das Gesetz betroffenen Frauen notwendige Leistungen, wie etwa Schutz in einem Frauenhaus, temporären Schutz durch Begleitungen, finanzielle Unterstützung und eine Krankenversicherung. Außerdem können die Frauen ein Näherungs- und Kontaktverbot erwirken. So steht es jedenfalls im Text.
Für neotraditionalistische Maskulinisten wie den Islamisten Abdurrahman Dilipak stellt das Gesetz Nr. 6284, das in der Türkei ohnehin kaum umgesetzt wird, einen Rahmen dafür dar, „klassische Familienstrukturen und den familiären Zusammenhalt zu zerstören und Homosexualität zu fördern”. In seiner jüngsten Kolumne im islamistisch-rechtsorientierten, regierungsnahen Blatt Yeni Akit argumentiert Dilipak: „Gesetz 6284 ist im Grunde eine Wiederholung der (Istanbul-)Konvention. Eigentlich ist es noch umfangreicher, und das meiste Gejammer gründet auf den Urteilen, die im Rahmen dieses Gesetzes ergangen sind. Wenn sich 6284 nicht ändert, wird sich de facto nichts ändern. Das Gejammer wird fortgesetzt werden.” Frauenrechtsorganisationen haben für diesen Montag bereits zu Protesten aufgerufen.
HDP-Frauenrat kündigt Großdemonstrationen für Konvention an
Derweil hat der Frauenrat der Demokratischen Partei der Völker (HDP) noch für April zwei zentrale Großdemonstrationen in Wan und Amed gegen den Rückzug aus der Istanbul-Konvention angekündigt. Die Aktionen werden von der Bewegung freier Frauen (Tevgera Jinên Azad) mitgetragen und finden im Rahmen der Kampagne „Gerechtigkeit für Frauen“ statt, die Teil der von der HDP ins Leben gerufenen Initiative „Gerechtigkeit für alle“ ist. An den Protesten sollen sich auch Menschen aus allen umliegenden Städten beteiligen. Vor allem in der Serhed-Region mobilisiert die Frauenbewegung in vielen Regionen zur Demonstration.