Der HDP-Abgeordnete Ömer Faruk Gergerlioğlu zieht gegen seine Verurteilung wegen vermeintlicher Terrorpropaganda vor den türkischen Verfassungsgerichtshof in Ankara. Damit rügt der Politiker und bekannte Menschenrechtler eine Verletzung aus Artikel 14 (Missbrauch der Grundrechte und -freiheiten), 26 (Freiheit der Äusserung und Verbreitung der Meinung) und 67 (Aktives und passives Wahlrecht sowie Recht auf politische Betätigung), wie sein Anwalt Kerem Altıparmak am Freitag mitteilte. Vor zwei Wochen hatte der türkische Kassationshof eine zweieinhalbjährige Haftstrafe gegen Gergerlioğlu bestätigt. Sollte das Urteil in der türkischen Nationalversammlung verlesen werden, verliert der 55-Jährige sein Mandat und damit auch seine parlamentarische Immunität.
Anwalt: Politisch motiviertes Urteil
Ein politisch motiviertes Urteil gegen die Forderung nach einer friedlichen Lösung der kurdischen Frage - so sieht Altıparmak das Urteil gegen seinen Mandanten. Ömer Faruk Gergerlioğlu ist ehemaliger Leiter der Menschenrechtsorganisation Mazlum-Der und sah sich wie viele andere Personen in der Türkei von den Massenentlassungen im Zuge des Putschversuchs vor knapp fünf Jahren betroffen. Der Lungenspezialist arbeitete als Arzt in der westtürkischen Provinz Kocaeli, bevor er im Oktober 2016 durch den Provinzgouverneur zunächst freigestellt und ein Jahr später per Präsidialdekret gekündigt wurde.
Zitat aus PKK-Erklärung wurde als eigene Aussage bewertet
Am 21. Februar 2018 wurde Gergerlioğlu der „Propaganda für eine terroristische Organisation“ für schuldig befunden und zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Anfang 2019 wurde das Urteil in zweiter Instanz bestätigt. Die Anklage bezog sich unter anderem auf einen Presseartikel, den er am 20. August 2016 auf Twitter geteilt hatte. Der Artikel, der auf einer Stellungnahme der kurdischen Arbeiterpartei PKK beruhte, war auf dem Nachrichtenportal T24 erschienen und trug die Schlagzeile: „PKK: Auf Initiative des Staates kann innerhalb eines Monats Frieden hergestellt werden“. Ein dem Artikel beigefügtes Bild zeigt drei Männer mit AK-47-Gewehren und wurde als „Beweis“ dafür herangezogen, dass Gergerlioğlu „Propaganda für die PKK betreibt, indem er bewaffnete Mitglieder einer terroristischen Organisation in einer Weise darstellt, die schmeichelhaft und attraktiv ist“. In dem Gerichtsentscheid heißt es, dass es sich bei dem Zitat um eine Aussage des Politikers handelt, was nicht korrekt ist. Gegen T24 sind bisher wegen des besagten Artikels keine gerichtlichen Schritte eingeleitet worden.
Wegen Engagement für Menschenrechte „auf dem Radar der Regierung“
Rechtsanwalt Kerem Altıparmak hebt in der Verfassungsbeschwerde insbesondere hervor, dass Gergerlioğlu aufgrund seines Engagements für Menschenrechte, vor allem im Zusammenhang mit illegalen Verschleppungen von Oppositionellen durch Sicherheitskräfte, Nacktdurchsuchungen auf Polizeirevieren sowie Folter in Haft „auf den Radar der Regierung“ geraten sei. Zudem beanstandet der Jurist, dass das Gerichtsverfahren gegen seinen Mandanten hätte gestoppt werden müssen, nachdem er mit seiner Wahl zum Abgeordneten für die HDP Immunität erlangt hat. „Stattdessen ist das Verfahren fortgesetzt und das Urteil bestätigt worden.“
Grundlage der Anklage war eine Friedensbotschaft
Grundlage der Anklage gegen Gergerlioğlu war zunächst aber eine Friedensbotschaft. Der Politiker engagierte sich nach den einseitig von der türkischen Regierung beendeten Friedensverhandlungen mit der kurdischen Bewegung im Jahr 2015 für die Friedensplattform in Kocaeli. Bei den Social-Media-Konten der Initiative veröffentlichte Gergerlioğlu nahezu täglich Friedensbotschaften, so auch am 9. Oktober 2016. An diesem Tag postete er ein Foto, das eine gestellte Szene während einer Veranstaltung zum Weltfriedenstag 2015 zeigte: zu sehen sind mehrere Frauen und im Vordergrund zwei Särge. Im einen ein türkischer Soldat, im anderen ein PKK-Kämpfer, die durch entsprechende Fahnen auf den Särgen zu erkennen sind. Unter das Bild schrieb Gergerlioğlu: „Dieser Krieg erschöpft die Gesellschaft. Ein Kind geht zur Armee, ein anderes zur PKK, beide sterben. Wäre es nicht besser, die beiden würden nicht als Leichen nebeneinander liegen, sondern gleichberechtigt leben, Schulter an Schulter?“