Folter und Isolation sind zu gesellschaftlichem Problem geworden

Mürüvet Küçük ist eine der Überlebenden des Gefängnismassakers vom 19. Dezember 2000. Folter und Isolation seien zu einem gesellschaftlichen Problem geworden, erklärt sie und ruft zum gemeinsamen Kampf auf.

Zwischen dem 19. und dem 22. Dezember 2000 stürmten türkische Sicherheitskräfte zeitgleich zwanzig Gefängnisse und ermordeten 30 politische Gefangene. Hunderte wurden bei der Operation mit dem Namen „Rückkehr ins Leben“ schwer verletzt. Von den namentlich bekannten Verantwortlichen wurde keiner bestraft. Sie wurden stattdessen durch eine Politik der Straflosigkeit geschützt. Die Gefangenen hatten damals mit einem Hungerstreik gegen die Durchsetzung der F-Typ-Isolationsgefängnisse protestiert. Die damals in den Gefängnissen durchgesetzte Isolation hat sich heute auf alle Lebensbereiche ausgedehnt.

Mürüvet Küçük saß zu der Zeit im Gefängnis von Uşak ein und wurde Zeugin, wie sich zwei politische Gefangene selbst verbrannten. In ihrer Haftzeit erlebte sie die Massaker in den Gefängnissen am eigenen Leib. Küçük war bereits 1996, als der erste Prototyp eines F-Typ-Gefängnisses eingerichtet wurde, in einen unbefristeten Hungerstreik getreten. Im ANF- Gespräch berichtet sie von den Massakern und dem Widerstand in den Gefängnissen.

Permanente Angriffe und permanenter Widerstand

Küçük war im Verfahren gegen die linke Organisation TIKB (Türkische Revolutionäre Kommunistische Partei) dutzende Male verurteilt und inhaftiert worden. Sie lernte das Gefängnis bereits in jungen Jahren kennen. Zuerst befand sie sich für kurze Zeit in Meletî (tr. Malatya) in Haft, dann von 1994 bis 2003 in Buca, Buldur und Uşak. 1995 erlebte sie das Gefängnismassaker von Buca. Dazu erklärt sie: „Buca war ein Gefängnis mit einem besonders hohen Anteil linkspatriotischer Gefangener. Der Staat versuchte, es in ein Folterlager zu verwandeln. Wir haben damals die Bedingungen durch unseren 49-tägigen Hungerstreik in einem entscheidenden Ausmaß ändern können. Es gab einen permanenten Angriff und permanenten Widerstand. Am Tag des Massakers wollten sie unsere Zellen stürmen. Es gelang ihnen, in einen Block einzudringen, und dort töteten sie drei unserer Freund:innen.“

Im „Sarg von Eskişehir“

Küçük berichtet, dass sie 1996 in das in Eskişehir eingerichtete Pilotprojekt für die F-Typ-Gefängnisse verlegt wurde. Dieses Gefängnis war auch unter dem Namen „Sarg von Eskişehir“ bekannt. Damals war Mehmet Ağar Innenminister. Er hatte eine Verordnung herausgebracht, nach der politische Gefangene nicht mehr nach Buca, Bayrampaşa oder ins Ulucanlar-Gefängnis, sondern in die neuen Gefängnisse in Eskişehir verlegt werden sollten. Durch diese Anweisung sollte die F-Typ-Isolation Standard für politische Gefangene werden. Küçük gibt an, dass sie dagegen Widerstand geleistet und einen Hungerstreik gestartet hatten. Das Buca-Gefängnis wurde in einer Großoperation geräumt. Küçük erinnert sich: „Eigentlich hatten wir damals bei uns in Buca ein Massaker erwartet, aber es wurde im Ulucanlar-Gefängnis verübt. Dort wurden zehn unserer Freunde ermordet.“

Der Angriff in Burdur war der Auftakt zum Massaker vom 19. Dezember“

Küçük wurde vom Buca-Gefängnis ins Gefängnis von Burdur verlegt. Dort gab es bereits vor dem 19. Dezember einen massiven Angriff, bei dem Veli Saçılık seinen Arm verlor. Sie berichtet, dass bei dem Angriff Brandbomben und Nervengas eingesetzt und die Gefängnismauern mit Baumaschinen eingerissen wurden. Dieser Angriff sei eine Übung für das Massaker vom 19. Dezember gewesen. Mürüvet Küçük berichtet: „Das Burdur-Gefängnis befand sich in den Händen der Mafia. Der für Folter bekannte Direktor des Gefängnisses von Erzurum war extra dorthin versetzt worden. Jedes Mal, wenn wir vor Gericht gebracht wurden, bedeutete das neue Folter. Daher beschlossen wir, nicht mehr an den Verhandlungen teilzunehmen. Seitdem wir das erklärt hatten, waren sie bereit zum Angriff. Wir sahen auf den Dächern Scharfschützen mit Langwaffen. Die Operation begann. Neben unserem Zellenblock befand sich ein Männerblock. Wir durchbrachen die Mauer zwischen der Frauenabteilung zum Männertrakt und trafen uns mit den Freunden. Dann wurde damit begonnen, Gasbomben auf uns zu werfen. Es handelte sich um Nervengas und Pfefferspray. Alle Arten von Gas, über das sie verfügten, wurden eingesetzt. Wir haben Barrikaden errichtet und damit begonnen, das Gas zu neutralisieren. Als sie kamen und eine Mauer nach der anderen mit Baumaschinen einrissen, versammelten wir uns im Frauentrakt. Wir errichteten wieder Barrikaden. Wir leisteten starken Widerstand, sie konnten nur eindringen, indem sie die Außenwand der Station einrissen. Dabei wurde Veli Saçılıks Arm abgerissen. Als sie eindrangen, begann die Folter. Wie viele Freund:innen wurde auch ich schwer verletzt. Die körperliche Gewalt war sehr heftig. Sie schlugen uns mit Latten auf den Kopf und auf den Rücken. Es kann sein, dass wir sogar Hirnblutungen bekamen. Wir wurden sexuell misshandelt und aufs Übelste geschlagen. Sie brachten uns mit Gewalt in einen Beobachtungsraum und fesselten uns am nächsten Morgen die Hände auf den Rücken. Sie schlugen uns mit Schläuchen und schickten uns dann in das Uşak-Gefängnis. Es gibt aus dieser Zeit ein Foto von mir. Obwohl mehrere Tage seit dem Angriff vergangen waren, waren meine Augen vollkommen lila und zugeschwollen.“

Bereits Monate vorher hatten sie die Operation als Manöver vorbereitet“

„Wir Frauen waren die einzigen politischen Gefangenen dort. Wir erwarten schon lange eine Operation. Denn es herrschte seit Monaten eine Ausnahmesituation. Als wir fragten, sagten sie uns, dass es um eine Übung für den Fall von Feuer und Erdbeben gehe. Wir erfuhren bald, dass das Massaker vom 19. Dezember trainiert wurde und dass sie Zellen für sechs bis acht Leute vorbereitet hatten, in die sie uns stecken wollten. Aber natürlich hatten wir nicht mit einer Operation gerechnet, bei der in 20 Gefängnissen gleichzeitig Massaker verübt werden würden. Wir befanden uns bereits drei Tagen im Hungerstreik. Am Tag des Massakers war eine der Fraueb wegen des Ramadan-Fastens früh aufgestanden. Aber an diesem Morgen gab es kein Gas. Als wir das bemerkten wurde uns klar, dass etwas geschehen würde. Wir riefen die Wachen, um zu fragen, warum das Gas abgestellt worden sei. Wir befanden uns im gleichen Block mit Menschen aus einer anderen Struktur, die schon früher mit dem Todesfasten begonnen hatte. Als wir sahen, dass sie mit Gewehren in die Richtung vorrückten, wo sich die todesfastenden Gefangenen befanden, versuchten wir, das mit Hilfe einer Barrikade zu verhindern. Sie rissen unsere provisorische Barrikade schnell wieder ein, misshandelten uns und schleiften uns auf den Hof. Sie besprühten uns mit Wasser aus einem Feuerwehrschlauch und ließen uns stundenlang in der Kälte warten. Dann zogen sie uns nackt aus und durchsuchten uns. Wir haben Widerstand geleistet. Sie haben unsere Kleidung zerrissen und uns geschlagen. Das war so schrecklich, ich kann mich daran erinnern, dass sogar Gefängniswachen bei diesem Anblick weinten.

Ich werde diesen Geruch mein Leben lang nicht vergessen“

Wir wurden auf drei separate Einzelhaftzellen im selben Gefängnis verteilt. Wir erfuhren, dass zeitgleiche Operationen in 20 Gefängnissen stattfanden. Als wir von dem Massaker erfuhren, verbarrikadierten wir die Zellen mit Betten, Gestellen, Schränken und erschienen drei Tage nicht zum Zählappell. Am vierten Tag griffen sie uns erneut an. Der Brigadekommandant der Ägäisregion richtete sich an uns und erklärte „Ihr werdet mir eure Zahl nennen. Ich bin kein Staatsanwalt, ihr werdet mir eine nach der anderen die Zahl geben.“ Wir antworteten: „Wenn das so ist, dann komm und hol dir unsere Zahl.“ Dann riefen wir Parolen. Sie versuchten, die Barrikaden einzureißen, aber wir hielten die Barrikade in unserer Zelle. In der Nachbarzelle befanden sich Freundinnen von Cephe. Zwei Frauen dort, Yasemin Cancı und Berrin Bıçkılar, verbrannten sich selbst. Sie wurden schwer verletzt und starben. Ich werde den Geruch niemals in meinem Leben vergessen. Sie durchbrachen unsere Barrikade und folterten uns noch schlimmer als am 19. Dezember. Sie schlugen mit Eisenstangen, Knüppeln und Holzstangen brutal auf uns ein und zerrten uns auf den Hof. Während dieser Angriffe gab es sehr viele sexuelle Übergriffe. Wir dachten, sie würden uns ins F-Typ-Gefängnisse schicken, wir bildeten Ketten und fingen an, die Internationale zu singen. Sie griffen uns daraufhin erneut an. Diesmal zwangen sie uns in die Beobachtungszellen. Das sind Einzelzellen, die zum Hof ausgerichtet und nur mit einem Gitter abgetrennt sind. In diese Zellen drang permanent kalte Luft ein. Sie warfen uns mit Gewalt in Einzelzellen. Wir setzten den Hungerstreik fort, den wir vor dem Massaker begonnen hatten. Diesmal wollten sie uns zu den Zellen bringen, die sie beim Manöver vor dem Massaker vorbereitet hatten. Wir akzeptierten das nicht. Der Menschenrechtsverein IHD und unsere Familien schritten ein und es gab ein Treffen. Zehn Tage später brachten sie alle, die im gleichen Verfahren waren, in eine Zelle. Ich saß im Rahmen des TIKB-Verfahrens ein. Wir waren acht Frauen zusammen in einer Zelle. Diesmal begannen sie jedoch, militärische Zählappelle und Zellendurchsuchungen durchzusetzen. Wir haben uns gegen all das gestellt und uns geweigert. Sie griffen mehrmals an. Sie schlugen uns immer wieder zusammen und warfen uns auf den Hof. Mir wurde ein Bein und meiner Genossin einen Arm gebrochen. Aber wir haben keine der Auflagen akzeptiert. Wir leisteten Widerstand und dadurch gewannen wir schließlich einen Status. Sie mussten unsere Bedingungen für die Zählung und Durchsuchungen erfüllen.“

Das Massaker war Staatspolitik“

Bisher wurde keiner der Täter der Massaker bestraft. Küçük sieht dies darin begründet, dass diese Massaker Staatspolitik sind. Der damalige Premierminister Bülent Ecevit hatte damals erklärt: „Wenn wir nicht zu F-Typ-Gefängnissen übergehen, werden wir die IWF-Politik nicht umsetzen können.“ Küçük sagt dazu: „Das zeigt deutlich, dass diese Massaker im Kontext der ökonomischen Krise stattfanden, um die revolutionäre Bewegung zum Schweigen zu bringen und die Menschen draußen einzuschüchtern.“ Küçük sieht deutliche Parallelen zur heutigen Zeit und der heutigen Krise in der Türkei.

Der Kampf hört weder drinnen noch draußen auf“

Nach ihrer Haftzeit begann Küçük für die Zeitschrift Alınteri zu arbeiten. Sie sagt, sie habe heute nochmals genau verspürt, wie richtig die Parole „Drinnen und Draußen, zerschlagt die Knäste“ ist. Sie berichtet, dass sie den Widerstand gegen die F-Typ-Gefängnisse in dem Bewusstsein geleistet haben, dass das Regime auf diese Weise die Avantgarde der Gesellschaft zur Aufgabe zu zwingen versucht. „Wir wussten, dass das, was geschehen ist, geschehen würde. Aber wir wussten auch, dass der revolutionäre Widerstand nicht enden würde“, betont sie. „Der Staat versucht, uns durch Isolation geistig zu vernichten, aber wir sind Revolutionär:innen und leisten überall, auf jede Weise Widerstand. Das haben sie auch begriffen. Sie haben uns in die Bunker geworfen, aber wir haben immer Widerstand geleistet. Denn Revolutionär:innen entwickeln Strategien gegen jede, auch noch so hoffnungslose Situation. Zum Beispiel war ich von 2011–2015 im Gefängnis von Bakırköy. Auch dort ging der Kampf weiter. Wir haben einen neuen Status erkämpft, auch wenn er nicht mehr das ist, was er einmal war. Im Moment werden Tausende unserer Freund:innen isoliert und schwer gefoltert. Der Staat will sie zerstören, aber sie widersetzen sich. Egal, was der Faschismus tut, ob er die brutalsten Folterungen entwickelt, oder die brutalsten Methoden der Isolation anwendet, der Kampf ist nicht vorbei, weder draußen noch drinnen. Das lehrt uns nur, uns unter neuen Bedingungen selbst neu zu erfinden.“

Küçük sagt, die Isolation sei heute zu einem gesellschaftlichen Problem geworden. Sie weist auf die zunehmenden Angriffe in Gefängnissen, die willkürliche Annullierung vorzeitiger Freilassungen und die Todesfälle kranker Gefangener hin und sagt: „Die Gefangenen konfrontieren sich damit auf die eine oder andere Weise, aber solange die Gesellschaft diesen Angriff nicht zurückschlägt, wird diese mörderische Politik Einfluss auf alle Lebensbereiche nehmen. Das ist ein gesellschaftliches Problem. Deswegen müssen wir alle gemeinsam den gesellschaftlichen Widerstand aufbauen. Das ist unsere Pflicht.“