Veli Saçılık: Die Gefängnisse sind kein Ort der Niederlage

Vor 21 Jahren hat der Soziologe und HDP-Politiker Veli Saçılık bei einem Gefängnismassaker seinen rechten Arm verloren. Mit der damaligen Operation sollte eine widerspruchslose Gesellschaft in der gesamten Türkei etabliert werden.

Am 19. Dezember 2000 hat unter dem zynischen Namen „Rückkehr ins Leben“ ein blutiges Massaker in türkischen Gefängnissen stattgefunden. Die Operation richtete sich gegen politische Gefangene, die sich gegen die Einführung der F-Typ-Gefängnisse wehrten. Einer von ihnen war der Soziologe Veli Saçılık, der heute Vorstandsmitglied der Demokratischen Partei der Völker (HDP) ist. Er verlor damals einen Arm, als ein Bulldozer die Wand seiner Zelle einriss.

Aus Anlass des Jahrestages hat sich Veli Saçılık gegenüber ANF zu der damaligen Situation geäußert. Er sagt, dass der Staat damals den Übergang zum System kleiner Zellen durchsetzen wollte: „Der Staat wollte eine neoliberale Zeit einläuten und ging davon aus, dass die kurdische Bewegung durch den Imrali-Prozess in die Ecke gedrängt ist und gleichzeitig auch die revolutionäre Bewegung der Türkei ausgeschaltet werden kann. Darauf waren alle Vorbereitungen ausgerichtet. Der F-Typ sollte als System, als Lebensform durchgesetzt werden. Das Ziel war eine Gesellschaft, die in und außerhalb der Gefängnisse isoliert und unorganisiert ist und in der kein Dialog zwischen den Menschen mehr stattfindet. Die damaligen Parteien DSP, ANAP und MHP und der Nationale Sicherheitsrat haben sich von der EU unterstützen lassen und zunächst die F-Typ-Gefängnisse errichtet, die zum Tod von 122 Menschen im Todesfasten geführt haben. Am 19. Dezember 2000 wurde ein großes Massaker verübt, bei dem dreißig Menschen getötet wurden. Damit wurde das F-Typ-System in unserem heutigen Leben durchgesetzt.“

Für Saçılık hat dieses Massaker eine lange Vorgeschichte. Bereits im Foltergefängnis von Amed (tr. Diyarbakir) ist nach dem Militärputsch von 1980 versucht worden, die politischen Gefangenen zur Kapitulation zu zwingen. Ihre kurdische und revolutionäre Identität sollte ausgelöscht werden. Am 26. September 1999 wurden zehn Gefangene in Ankara-Ulucanlar grausam getötet, so Veli Saçılık: „Dann hat am 5. Juli 2000 ein Angriff auf die Gefangenen in Burdur stattgefunden, dort war auch ich. Diese Operation war wie ein Probelauf. Es wurde nicht versucht, uns zu verlegen, sondern vielmehr ausgetestet, wie das Gefängnis zerschlagen werden kann. Dabei kamen Gasbomben, Kompressoren und alle möglich Methoden zum Einsatz. Direkt im Anschluss wurde die Propaganda verbreitet, dass die Gefängnisse vom Typ F wie Fünf-Sterne-Hotels sind und der momentane Zustand eine blutende Wunde ist. Später kam heraus, dass der Nationale Sicherheitsrat die Anweisung gegeben hatte, dass in den Medien ständig über die Gefängnisse berichtet werden soll.“

Veli Saçılık weist darauf hin, dass zunächst drei Organisationen gegen das neue Haftsystem gekämpft haben. Es fand ein Hungerstreik statt, der später in ein Todesfasten umgewandelt wurde. Die Operation wurde mit der angeblichen Rettung von Menschenleben begründet. Nach Regierungsangaben wurden die Gefangenen von ihren Organisationen zum Hungerstreik gezwungen und sollten mit der Verlegung in F-Typ-Gefängnisse gerettet werden. „Nach der Verlegung sind jedoch Tausende Menschen in den Hungerstreik getreten, Hunderte haben ein Todesfasten begonnen. Alle Todesfälle im Todesfasten haben erst in den F-Typ-Gefängnissen stattgefunden. Im Todesfasten haben 122 Personen ihr Leben verloren“, so Saçılık.

Ihm selbst wurde bei der Operation in Burdur der rechte Arm von einem Bulldozer abgerissen. Der HDP-Politiker weist darauf hin, dass viele weitere Menschen aufgrund der damaligen Regierung Körperteile oder ihr Gedächtnis im Gefängnis verloren haben. Die Annahme, dass mit dem Kleinzellensystem der Widerstand zerschlagen werde, sei jedoch nicht aufgegangen, betont Veli Saçılık: „Der Widerstand geht auch heute noch weiter. Gleichzeitig geht auch das stille Sterben in der Isolation weiter, so wie bei Garibe Gezer.“

Ironischerweise seien heute auch diejenigen von dem System der Isolation betroffen, die damals für die Einführung geworben hätten, sagt Veli Saçılık und verweist auf die Generäle, die im Ergenekon-Prozess und nach dem versuchten Putsch der Gülen-Gemeinde inhaftiert worden sind: „Einer der Polizisten wurde tot in seiner Zelle aufgefunden, Hunderte kranke Gefangene sind gestorben. Hier ist die Türkei, jederzeit ist alles möglich. Aus diesem Grund haben wir damals gesagt, dass die F-Typ-Gefängnisse geschlossen werden müssen, und das sagen wir auch heute noch.

Auf Imrali herrscht heute eine absolute Isolation, auch in den anderen Gefängnissen herrscht Isolation. Isolation ist Folter, und das sagen wir nicht nur, wir leisten Widerstand dagegen. Gerade erst haben zwei kranke Gefangene ihr Leben verloren. Halil Güneş kannte ich seit 1995 als kranken Gefangenen. Seit damals ist er nicht medizinisch behandelt worden, er wurde offenen Auges getötet. So ist das in den Gefängnissen. Die Gefängnisse sind jedoch nicht nur Orte der Niederlage, sie sind Orte des Widerstands, an denen nicht kapituliert und gehorcht wird, sondern eine Fortsetzung der revolutionären Tradition stattfindet.“

Das F-Typ-System ist für den Soziologen Veli Saçılık ein Herrschaftssystem, mit dem die Menschen kontrolliert und ihres Willens beraubt werden sollen. Es entspreche dem Palast-Regime, mit dem eine widerspruchslose Gesellschaft in der gesamten Türkei etabliert werden soll: „Wir alle sollen uns einsam fühlen und der Ausgangspunkt ist der F-Typ. Gegen diejenigen, die drinnen wie draußen ein Klima der Angst erschaffen wollen und mit einem Blutbad drohen, gibt es Widerstand. Wie schon Selahattin Demirtaş gesagt hat: Mut ist ansteckend. Es gibt immer noch Menschen in der Gesellschaft, die sich mutig gegen die Unterdrückung wehren. Wir stimmen zu, dass sich der F-Typ auf die gesamte Gesellschaft ausgebreitet hat, aber dass wir kapituliert haben, akzeptieren wir nicht.“