Der Rechtsbeistand von Garibe Gezer hat beim türkischen Verfassungsgerichtshof Beschwerde gegen die Einstellung des Ermittlungsverfahrens zur Folterung der in Haft gestorbenen politischen Gefangenen eingereicht. Die Verfassungsbeschwerde sei hinsichtlich der Verfahrenseinstellung zugunsten eines Gefängnisarztes und des Vollzugspersonals im Hochsicherheitsgefängnis Kandıra begründet, in dem Gezer bis zu ihrem verdächtigen Tod inhaftiert war, teilt ihre Verteidigung mit. Das getrennt geführte Ermittlungsverfahren zu ihrem Tod ist weiter anhängig.
Die 28-jährige Kurdin Garibe Gezer war am 9. Dezember vergangenen Jahres nach erlittener Folter in Einzelhaft im Hochsicherheitsgefängnis Kandıra nahe Kocaeli ums Leben gekommen. Zum Zeitpunkt ihres Todes saß sie eine von etwa zwanzig Bunkerstrafen in einer Einzelzelle ab, die ihr in den Monaten zuvor willkürlich auferlegt worden waren. Das endgültige Obduktionsergebnis steht weiterhin aus, in einem vorläufigen Bericht werden keine Angaben zur Todesursache von Gezer gemacht. Die Vollzugsleitung hält weiter an ihrer Selbstmord-Theorie fest.
„Nur wenn wir sterben, werden unsere Stimmen gehört“ - Aus dem letzten Brief von Garibe Gezer an ihre Anwältin Jiyan Tosun, verfasst im Oktober 2021.
Von staatlicher Gewalt geprägtes Leben
Im Juni hatte sich Garibe Gezer erstmalig mit der Bitte um Unterstützung an den Menschenrechtsverein IHD gewandt. Über Monate war die Gefangene zuvor in einer Strafvollzugsanstalt in Kayseri in Einzelhaft gehalten worden. Sie hatte sich gewehrt und aus Protest gegen die Isolation ihre Zelle angezündet. Zur Strafe wurde sie nach Kandıra verlegt. Doch auch dort ging die Folter weiter. Beim ersten Besuch bei ihr in der Haftanstalt soll sie dem IHD berichtet haben, im Mai schwere physische und sexualisierte Gewalt erfahren und wiederholt verlangt zu haben, aus Einzelhaft in eine Sammelzelle verlegt zu werden. In diesem Zusammenhang habe sie etliche Briefe an Familienangehörige, Bekannte und Anwält:innen geschrieben. Darin schilderte sie unter anderem, dass am 21. Mai männliches und weibliches Wachpersonal in ihre Zelle eindrang. Während Gefängniswärterinnen ihre Arme festgehalten haben sollen, hätten die Männer ihr mit Stiefeln in den Rücken getreten und ihr in dem Intimbereich gefasst. Der Gewaltakt habe mehrere Minuten angedauert. Ihr sei die Wäsche vom Leib gerissen worden, bevor sie halbnackt durch den Männerbereich geschleift wurde. Anschließend sei sie in eine vollständig isolierte, 24 Stunden am Tag kameraüberwachte ‚Gummizelle‘ gesperrt worden. In diesem Raum, in dem sie bis zum 24. Mai festgehalten wurde, habe sie sexualisierte Gewalt von Seiten der Gefängniswächterinnen erlebt. Danach versuchte sie sich das Leben zu nehmen. Auf der Krankenstation wurde sie erneut misshandelt. Eine medizinische Behandlung blieb aus. Laut dem IHD sind sämtliche der Schreiben Garibe Gezers mit den Schilderungen über das ihr Widerfahrene von der Vollzugsleitung beschlagnahmt worden. Damit sollte offenbar verhindert werden, dass sie von der erfahrenen Gewalt berichtet.
Unvollständige Aufnahmen der Videoüberwachung
Das Verteidigungsteam der Kurdin aus Kerboran (tr. Dargeçit) stellte daraufhin Strafanzeige gegen das Vollzugspersonal wegen Vergewaltigung, unzulässiger Anwendung körperlicher Gewalt, Folter und Vernachlässigung von Dienstpflichten, der Arzt Ismail Ü. wurde wegen Amtsmissbrauchs angezeigt. Die zuständige Staatsanwaltschaft sah sich zunächst nicht veranlasst, tätig zu werden. Erst durch massiven öffentlichen Druck wurden Ermittlungen eingeleitet, im November wurde Garibe Gezer in die Rechtsmedizin überwiesen. Die Aufnahmen aus den Überwachungskameras des Gefängnisses, die das Martyrium von Garibe Gezer eingefangen haben, etwa als sie halb nackt vom Vollzugspersonal gewaltsam durch den Männerbereich geschleift wurde, fanden allerdings nur unvollständig ihren Weg in die Akte. Übersetzungen der Telefongespräche Gezers mit ihrem in Xarpêt (Elazığ) inhaftierten Bruder Haşim, dem sie das Erlebte detailliert schilderte, ließ der Staatsanwalt gar nicht erst anfertigen. Von vier Zeuginnen der Übergriffe auf Garibe Gezer wurden nur drei angehört. Gezer selbst ist nicht die Möglichkeit eingeräumt worden, sich über die Gewalterlebnisse zu äußern. Die mutmaßlichen Täter wurden ohnehin nicht verhört.
Garibe Gezer soll auch am 6. Juli nochmal in die Weichzelle gesperrt worden sein. Ihr Bruder Haşim machte die Inhalte der Telefonate in einem Brief an den HDP-Abgeordneten Ömer Gergerlioğlu öffentlich und fordert die Preisgabe der Gesprächsaufzeichnungen. | Foto: Pressekonferenz der Verteidigung am 15. Dezember zur Geheimhaltungsverfügung über den Ermittlungsakten.
Ein Staatsanwalt für beide Ermittlungsakten
Mitte Dezember – nur wenige Tage nach ihrem angeblichen Suizid – wurden die getrennt voneinander geführten Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit der Folterung und dem Tod von Garibe Gezer unter Geheimhaltung gestellt. Für beide Akten ist ein und derselbe Staatsanwalt zuständig, dem die Verteidigung der Verstorbenen, bereits mehrfach die Zurückhaltung von Dokumenten und Beweismitteln vorgeworfen hat. Auch ihre Forderung, eine Untersuchung der Arrestierung ihrer Mandantin in der Gummizelle einzuleiten, ist bislang im Sande verlaufen. Ende Dezember hat die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren um die Folter an Garibe Gezer eingestellt. Eine Analyse der Abläufe zeige, dass niemandem ein Fehlverhalten vorzuwerfen sei, hieß es zur Begründung.
Bedeutung und Tragweite des Rechts auf effektive Strafverfolgung verkannt
Daraufhin legten die Rechtsanwältinnen Eren Keskin, Jiyan Tosun und Jiyan Kaya am 5. Januar bei der Strafabteilung des Amtsgerichts Kandıra eine Beschwerde gegen die „rechtswidrige“ Einstellungsverfügung ein. Die Juristinnen begründeten diesen Schritt damit, dass in der angegriffenen Entscheidung Bedeutung und Tragweite des Rechts auf effektive Strafverfolgung verkannt werden, weil der Sachverhalt – insbesondere die Tatfolgen – nicht aufgeklärt worden ist. „Weil das Gericht die Rechtswidrigkeit der Einstellung des Ermittlungsverfahrens dennoch nicht erkannte, wurde eine Verfassungsbeschwerde erhoben. Diese ist begründet, da unsere Mandantin Garibe Gezer durch das Gesetz in ihren Grundrechten verletzt worden ist. Wir sehen Verstöße gegen Artikel 17 (Recht auf Unantastbarkeit, materielle und ideelle Existenz der Person), 36 (Recht auf ein faires Verfahren sowie das Recht unter Benutzung legaler Mittel und vor den Rechtsprechungsorganen zu klagen und sich zu verteidigen), 40 (Schutz der Grundrechte und -freiheiten) und 141 (Öffentlichkeit der Verhandlung und Ausstattung der Entscheidungen mit Gründen) der türkischen Verfassung. Darüber hinaus liegen Verstöße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention vor, konkret geht es um Artikel 3 – Verbot der Folter; Artikel 6 – Recht auf ein faires Verfahren; Artikel 13 – Recht auf wirksame Beschwerde“, erklärte der Rechtsbeistand von Garibe Gezer.
Eine Antwort auf die Verfassungsbeschwerde gegen die Einstellung des Ermittlungsverfahrens steht noch aus.
Wer war Garibe Gezer?
Garibe Gezer war politisch aktiv und wurde im März 2016 in der Provinz Mêrdîn festgenommen. Sie war damals 23 Jahre alt und im Vorstand des Kreisverbands der DBP in Kerboran. Zwei Jahre zuvor wurde ihr Bruder Bilal Gezer bei den Kobanê-Protesten im Oktober 2014 von Unbekannten ermordet. Ein weiterer Bruder, Mehmet Emin Gezer, wollte bei der Polizei in Kerboran nach den Mördern fragen und wurde vor dem Gebäude von polizeilichen Sondereinsatzkräften angeschossen. Aufgrund der Schussverletzung sind seine Beine gelähmt. Alle neun Mitglieder der Familie wurden festgenommen, es wurden Ermittlungen gegen sie eingeleitet.
Der Haftbefehl gegen Garibe Gezer erging aufgrund eines Verfahrens gegen alle, die Kerboran nach der Ausrufung der Ausgangssperre im Dezember 2015 nicht verlassen haben. Sie wurde zu einer erschwerten lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt, die nach türkischem Strafrecht bis zum Tod vollzogen wird. Garibes Bruder Haşim Gezer wurde ein knappes Jahr später verhaftet und zu 22 Jahren verurteilt.