Paralleljustiz in der Türkei
In der Türkei werden Hunderte politische Gefangene nach Vollendung ihrer regulären Haftstrafen nicht entlassen. Der Menschenrechtsverein IHD fordert die Abschaffung der sogenannten Verwaltungs- und Beobachtungsausschüsse, die ohne juristische Kompetenz in den Haftanstalten über die Freilassung von Gefangenen entscheiden.
Wie die Strafvollzugskommission des IHD am Freitag mitteilte, ist die Anordnung zur Bewertung von Strafgefangenen 2021 durch eine Gesetzesänderung in Kraft getreten. „Die durch diese Verordnung eingerichteten Verwaltungs- und Beobachtungsstellen bewerten das Wohlerhalten der Gefangenen in sechsmonatigen Abständen“, erläuterte der Menschenrechtsverein in einer in mehreren Städten vorgetragenen Erklärung. Das Gremium untersteht der Staatsanwaltschaft und setzt sich aus dem jeweiligen Anstaltsleiter, Verwaltungsbeamten, dem Anstaltsarzt, einem Psychiater, einem Psychologen sowie Mitarbeiter:innen des psychosozialen Hilfsdienstes, des Wachpersonals und des technischen Personals zusammen.
Klage wegen Verstoß gegen Verfassung und Menschenrechtskonvention
Diese Ausschüsse verstoßen nach Ansicht des IHD gegen die Verfassung der Türkei und gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Der Menschenrechtsverein hat dagegen Klage vor dem Kassationsgerichtshof erhoben, das Verfahren ist weiter anhängig.
Über 500 betroffene Gefangene
Da die Generaldirektion für Haftanstalten keine Daten veröffentlicht, liegen keine genauen Zahlen darüber vor, wie viele Gefangene von den Entscheidungen der Beobachtungsauschüsse betroffen sind und trotz Vollendung ihrer Haftstrafen nicht freigelassen werden. Soweit der IHD nach eigenen Angaben feststellen konnte, wurde seit Anfang 2021 die Entlassung von mindestens 501 Gefangenen mehr als einmal für ein Jahr, neun Monate, sechs Monate und drei Monate verhindert. ,54 dieser Gefangenen sind seit über dreißig Jahren inhaftiert, 73 von ihnen sind Frauen. 105 Betroffene stehen auf der vom IHD geführten Liste kranker Gefangener, 42 von ihnen werden als schwer krank eingestuft.
Wie eine parallele Gerichtsbarkeit
„Die im Rahmen dieser Verordnung eingerichteten Ausschüsse verstehen sich als Gericht und beurteilen die Gefangenen danach, ob sie sich gut verhalten oder nicht. Sie entscheiden über das Recht auf bedingte Entlassung und Bewährung. Die Struktur und die Entscheidungen dieser Ausschüsse, die wie ein paralleles Gericht agieren und bei denen es außer dem Staatsanwalt keine Rechtsexperten gibt, sind nicht rechtmäßig“, betonte der IHD. Die Bewertung des Wohlverhaltens der Gefangenen wirke sich unmittelbar auf ihre Freiheit und Sicherheit aus und werde „der Willkür der Gefängnisbehörden überlassen. Die gegen diese Entscheidungen eingelegten Rechtsmittel bleiben erfolglos, und die Entlassung der Gefangenen wird hinausgezögert“.
Foto: Pressekonferenz im IHD Istanbul © MA