In der nordkurdischen Provinz Wan ist der Geflüchteten gedacht worden, die heute vor einem Jahr bei einem Bootsunglück im Wansee ums Leben gekommen sind. Das Fischerboot mit mindestens 80 Schutzsuchenden aus Pakistan, Afghanistan und Iran an Bord war am 27. Juni 2020 in der Nähe der Çarpanak-Insel längsseits von einer Welle getroffen worden und in der Folge gekentert. Viele Menschen stürzten sich ins Wasser, andere wurden im Inneren des Schiffs eingeschlossen, gab der mutmaßliche Fahrer des Fischerboots an, der als einziger überlebte. Die Leichen von 61 Flüchtlingen, darunter zwei Kindern, konnten geborgen werden. Mindestens neunzehn weitere schiffsbrüchige Schutzsuchende werden noch immer vermisst.
Zum einjährigen Gedenken geladen hatte die Rechtsanwaltskammer Wan. Jindar Uçar, Verantwortlicher der Kommission für Migration und Asyl, verteilte Nelken an die Anwesenden, die ins Wasser gelassen wurden. „Wir haben uns heute hier versammelt, um an all jene zu erinnern, die auf der Flucht nach Europa ihr Leben gelassen haben”, sagte Uçar. Viele seiner Kolleg:innen hatten ihre Kinder mitgebracht, die ebenfalls Nelken in den Wansee warfen.
Für die Türkei sei es das schwerste Flüchtlingsunglück der jüngeren Zeit gewesen, führte Uçar in seiner Ansprache weiter aus. Dennoch käme das Verfahren gegen die Verantwortlichen nur schleppend voran. Von insgesamt zwölf Verdächtigen waren kurz nach dem Unglück sechs verhaftet worden, inzwischen befindet sich nur noch einer von ihnen im Gefängnis. „Die Staatsanwaltschaft führte ihre Ermittlungen nicht mit der gebotenen Neutralität“, hob Uçar hervor. Vermutlich ist sie aufgrund der Verwicklung staatlicher Akteure gar nicht in der Lage, da das Schiff einem AKP-Funktionär aus Wan gehört. „Wirft man einen Blick auf die Anklageschrift, sieht es ganz danach aus, als ginge es den Strafverfolgungsbehörden einzig darum, den öffentlichen Druck abzubauen. Unmittelbar oder mittelbar finanzielle oder sonstige materiellen Vorteile für die Verantwortlichen dieses endenden Migrantenschmuggels wurden vollkommen außer Acht gelassen. Hieran machen wir fest, dass ein Mechanismus für Straflosigkeit in Gang gesetzt worden ist“, so Uçar.
Kinder werfen Nelken in den Wansee
Wan: Ein Grab für Flüchtlinge
Wan grenzt direkt an Ostkurdistan (Iran) und ist der erste Anlaufpunkt auf türkischem Staatsgebiet für Menschen, die vor den Kriegen im Mittleren Osten und Asien nach Europa fliehen wollen. In der Provinz spielen sich laufend Flüchtlingsdramen ab. Menschen auf der Flucht erfrieren im Grenzgebiet, andere kommen bei Verkehrsunfällen in überfüllten Fahrzeugen ums Leben. Nach der Schneeschmelze im Frühjahr kommen die Leichen Erfrorener zum Vorschein.
Im Durchschnitt kommen täglich zwischen 1000 und 1500 Menschen aus Afghanistan, Iran, Irak und Mittelasien nach Wan. Mehr als 40.000 Migrantinnen und Migranten sind im vergangenen Jahr an der Grenze aufgegriffen worden. Eine weit größere Anzahl fällt in die Hände von Schleppern. Um Schutzsuchende am Passieren der Grenze zu hindern, lässt die türkische Regierung seit letztem Sommer mit EU-Beitrittsmitteln eine neue Mauer errichten. Laut Uçar komme das Betonwerk aber nicht gegen die „Flüchtlingsindustrie“ an, die sich in den vergangenen Jahren an der Grenze zum Iran entwickelt hat, sondern führe nur noch zu mehr Leid. Aufgrund der Aufrüstung der Grenze würden immer mehr Schutzsuchende auf den gefährlichen Schleichwegen durch das Hochgebirge sterben.
„Wir müssen die Behörden immer wieder daran erinnern, dass das Recht auf Asyl ein grundlegendes Menschenrecht ist. Mit dieser Mauer an der Grenze zum Iran wird das Asylrecht aber vollständig beseitigt. Flüchtlinge werden dadurch auf immer gefährlichere Routen gedrängt. Wir verlangen sichere Wege statt tödliche Fluchtrouten. Zudem fordern wir die Behörden auf, das Boot auf dem Boden des Wansees zu bergen“, so Uçar. Das Wrack des Fischerboots war schon im Juli vergangenen Jahres von Tauchrobotern in einer Tiefe von etwas mehr als hundert Metern gefunden worden. Trotzdem liegt es dort auch weiterhin. Die Rechtsanwaltskammer Wan vermutet, dass die Leichen der 19 Vermissten im Bootsinnenraum eingeschlossen sind.